Bruderherz
Schlafzimmer gehen. Allein. Dir wird nicht einmal nach einem Drink zumute sein.
Ich erwachte durch einen ohrenbetäubenden Schrei aus meiner Stereoanlage, die unten im Wohnzimmer stand und Miles Davis auf voller Lautstärke durch das Haus jagte. Es war zwei Uhr morgens. Ich verharrte in vollkommener Dunkelheit bewegungslos unter der Decke und dachte: Es ist jemand im Haus. Wenn du das Licht einschaltest, wirst du ihn am Fußende des Bettes stehen sehen, und wenn du dich bewegst, wird er wissen, dass du wach bist, und dich umbringen. Bitte, lieber Gott, lass es sich um einen plötzlichen Spannungsanstieg in der Stromleitung oder um irgendeinen Fehler im Überspannungsschalter handeln! Aber ich habe gar keine Miles-Davis-Platte.
Die Fenster klirrten wegen der lauten Musik, während ich mit der linken Hand nach meinem Nachttisch tastete und die Schublade öffnete, obwohl ich jeden Augenblick damit rechnete, vom Licht geblendet zu werden und direkt danach einen unsagbaren Schmerz zu spüren. Meine Hand griff nach meiner neuen Pistole, einer kompakten .40er Glock. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, ob ich die Waffe geladen hatte, daher schob ich sie unter die Bettdecke und zog den Patronenschaft heraus. Ich konnte spüren, wie das Teilmantelgeschoss aus dem Magazin hervorstand, bereit, abgefeuert zu werden.
Zwei Minuten lang lag ich im Bett, nur darum bemüht, meine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Danach blickte ich mich blinzelnd, damit er nicht das Weiße meiner Augen sehen konnte, in meinem Zimmer um: Offensichtlich war ich alleine. Es sei denn, er ist im Schrank. Ich rollte mich im Bett auf die andere Seite und griff nach dem Telefon, um 911 zu wählen. Miles plärrte durch die Muschel. O Gott!
Ich setzte die Füße auf den Teppich, kroch zur Tür und konnte nur denken: Geh nicht da runter. Orson könnte irgendwo im Haus sein. Ich weiß, dass er es ist. Bitte lass es einen Traum sein.
Der Flur im ersten Stock verlief als Balustrade über dem gesamten Wohnzimmer entlang und mündete in mein Schlafzimmer. Ich hielt an meiner Tür inne und spähte in den leeren Flur. Zu dunkel, um irgendetwas im Wohnzimmer unten zu erkennen. Das Einzige, was ich sah, waren die rot und grün leuchtenden Lämpchen der Stereoanlage neben der Treppe und durch die hohen Wohnzimmerfenster den Wald, den See und das weit entfernte bläuliche Licht am Ende von Walters Steg. Vielleicht sterbe ich heute Nacht.
Ich hatte die Hand schon auf dem Lichtschalter, konnte mich aber nicht entschließen, die Lichtleiste im Flur einzuschalten. Vielleicht weiß er noch nicht, dass ich aufgestanden bin. In dem Fall möchte ich ihn unter keinen Umständen darauf aufmerksam machen.
Auf der rechten Seite des Flurs befanden sich drei offene, zu dunklen Zimmern führende Türen, auf der linken Seite begrenzte das Eichengeländer den Gang. Mein Herz schlug so heftig wie ein Vorschlaghammer. Geh bis zur Treppe. Ich eilte den Flur entlang, während »So What« meine Schritte übertönte. Bis ich oben auf der Treppe kauerte, brannte mir kalter Schweiß in den Augen. Durch das Geländer konnte ich hinab in den großen Wohnraum blicken: das Sofa, der kurze Flügel, die Bar, der Kamin – alles mehrdeutige, schiefe Formen im Schatten unter mir. Einige Winkel konnte ich nicht einsehen: die Küche, die Eingangshalle, mein Arbeitszimmer. Er könnte überall sein. Mein Körper wurde so heftig von hysterischem Zittern geschüttelt, dass ich den Finger nicht am Abzugshahn lassen konnte, dabei dachte ich die ganze Zeit: Er will mir nur Angst einjagen. Genau das törnt ihn an.
In meine Panik mischte sich Wut. Ich stand auf und richtete die Waffe die Treppe hinab ins Wohnzimmer.
»Orson!«, schrie ich über die Musik hinweg. »Sehe ich etwa ängstlich aus?! KOMM SCHON!!«
Ich ging zur Stereoanlage und schaltete sie aus. Eine ungeheuerliche Stille umfing mich, deshalb schaltete ich die Lampe neben der Stereoanlage ein, deren warmes Licht mein Herz beruhigte. Ich lauschte, schaute mich um, sah und hörte nichts, atmete fünfmal tief durch und lehnte mich gegen die Wand, um die wieder aufwallende Angst zu bezähmen. Geh durch die Küche hinaus auf die Terrasse und hau ab von hier. Vielleicht spielt er nur mit dir. Vielleicht ist er schon weg.
Auf dem Weg zur Hintertür hielt mich etwas auf, was sich in der Fensteröffnung des Alkovens zwischen Küche und Wohnzimmer befand. Eine unbeschriftete Videokassette stand auf der Glasplatte des Frühstückstischs.
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