Bruderherz
Hast du den Verstand verloren?«
»Scheint so.«
Aus dem Nieseln war Regen geworden. Ich zitterte.
»Ich muss nach Hause«, sagte er. »Ich muss mit John David und Jenna zum Halloween-Umzug.«
»Wirst du mitkommen?«, wiederholte ich meine Frage.
»Rate mal!«
»Ich verstehe.«
»Nein. Nein, das tust du nicht. Du verstehst überhaupt nichts.« Er fing wieder an zu weinen, doch es gelang ihm, für einen Moment die Fassung zurückzugewinnen. »Lass uns etwas klarstellen, okay? Ruf mich nicht an. Komm nicht zu meinem Haus rüber. Schreib mir keine E-Mails. Denk verdammt noch mal nicht mal an mich. Tu nichts, aber auch gar nichts, weshalb dieses verdammte Arschloch den Verdacht haben könnte, dass wir Freunde sind. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Walter. Ich möchte, dass du…«
»Kein einziges Wort mehr. Gib mir das Tau.«
Ich band unsere Ruderboote auseinander und warf ihm das Tauende zu. Er ließ den Außenbordmotor an, entfernte sich tuckernd und fuhr in einem großen Halbkreis zu seinem Steg zurück.
Es war fast dunkel und der Regen prasselte beständig und heftig auf den See. Ich ließ den Motor an und beeilte mich, zurück zu meinem Steg zu kommen. Hätte nicht die Sicherheit von Walter und seiner Familie auf dem Spiel gestanden, wäre ich nach Hause geeilt, um mich selbst zu töten.
Kapitel 20
Die Wände meines Arbeitszimmers bestehen fast nur aus Fenstern, und da es bis an die Bäume ragt, habe ich das Gefühl, meine Zeit schreibend im Wald am Fuße eines Gebirges zu verbringen. Mein Schreibtisch steht an der längsten Glaswand zum Wald hin, so lenkt mich nichts von der Arbeit ab, außer dann und wann eine Hirschkuh oder ein grauer Fuchs. Ich kann vom Schreibtisch aus noch nicht einmal den See sehen, und das ist Absicht, denn Wasser übt eine magische Faszination auf mich aus und würde mir nur die Zeit stehlen.
Überall Bücher, unsortiert in Regalen und stapelweise auf dem Boden. In einer Ecke türmen sich Manuskripte von Fans und nach Ruhm strebenden Hobbyautoren zu einem Angst einflößenden Stapel. Ein riesiges Lexikon liegt ständig aufgeschlagen auf einem Lesepult. Ich habe sogar einen Ständer für die Erstausgaben und Übersetzungen meiner Romane neben der Tür stehen. An der anderen Türseite hängt ein kleiner Goldrahmen mit der Fotokopie meines ersten, mageren Gehaltsschecks.
Regen rinnt die Scheibe hinab, als ich an meinem Schreibtisch sitze, in den schwarzen Wald starre und darauf warte, dass eine Website geladen wird. Es wird die fünfte College-Website sein, die ich überprüfe. Ich hatte meine Suche auf die Lehrstühle für Geschichte an den Universitäten von New Hampshire und Vermont beschränkt, doch je länger ich vergeblich suche, desto häufiger frage ich mich, ob das Gedächtnis des Cowboys vielleicht lückenhaft war. Franklin Pierce, Keene State, die Universitäten von New Hampshire und Plymouth hatten nichts ergeben. Vielleicht stand Dave Parker für Orson Irgendwer.
Als ich die Homepage des Woodside College auf dem Monitor hatte, klickte ich erst auf Fachbereiche und dann auf Geschichte und gelangte schließlich zu Lehrpersonal der Fakultät für ältere und neuere Geschichte (Alphabetische Auflistung).
Während ich dem Server Zeit ließ, schaute ich auf die Uhr auf meinem Schreibtisch: 19 Uhr 55. Sie ist seit vierundzwanzig Stunden tot. Hast du sie einfach in diesem dreckigen Keller liegen lassen? Wegen der Aktion in Washington konnte ich mir nicht vorstellen, dass Orson sich die Mühe gemacht hatte, unsere Mutter mitzunehmen. Ihre Leiche aus dem Haus zu holen, wäre zeitaufwändig und riskant gewesen. Davon abgesehen war meine Mutter ein Mensch, der die Einsamkeit liebte; so vergingen oft Tage, ohne dass sie zu irgendjemandem Kontakt hatte. Mein Gott, sie könnte eine Woche in diesem Keller liegen, bevor sie jemand findet!
Die Polizei würde mich benachrichtigen müssen. Ich hatte nicht einmal in Erwägung gezogen, den Mord an ihr anzuzeigen, denn nach allem, was ich bisher erlebt hatte, war ich sicher, dass Orson mich wieder reingelegt hatte. Muttermord. Selbst bei Tieren scheint das unnatürlich. Ich konnte nicht darüber nachsinnen. Ich musste mir meinen Trancezustand erhalten.
Die Website der Fakultät begann mit einem kurzen Abschnitt über die herausragenden und außergewöhnlichen Qualifikationen der vierzehn Professoren, aus denen sich der historische Lehrstuhl des Woodside College zusammensetzte. Ich las ihn flüchtig und ging dann die Namensliste
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