Bruderherz
steife Schönheit wie eine für die Aufbahrung hergerichtete Leiche.
Jenseits der Randbezirke von Woodside, am Fuße der Green Mountains, fuhren Walter und ich auf einen Gasthof zu. Nach einer langen, kurvigen Auffahrt sah ich ein großes, weißes, direkt an den Berg gebautes Haus. Auf der das Haus umgebenden Veranda bewegte sich etwas – leere Schaukelstühle schwankten in einer kräftigen Brise hin und her.
Walter fuhr seinen Cadillac auf den mit Kies bestreuten Parkplatz, der an den fahlen Rasen hinter dem Haus angrenzte. Nur sieben Wagen parkten dort, und ich war erleichtert, mich außerhalb von Orsons Stadt zu befinden. Wegen der Nähe zum Campus hätten wir beinahe im Zentrum von Woodside in einem Hotel übernachtet. Doch das Risiko, Orson über den Weg zu laufen, war einfach zu groß.
Nachdem wir unsere Koffer die Stufen zur Veranda hochgewuchtet hatten, ließen wir uns in die Schaukelstühle fallen. Von dort, wo wir saßen, fiel der Berghang gut dreihundert Meter ab und die frühe Abendsonne beleuchtete den Wald aus kahlen Bäumen im Tal unter uns. Kahle Äste bewegten sich im Wind, und ich stellte mir vor, wie vor drei Wochen noch das Geraschel des Laubs mit seinem Klang die Luft erfüllt hatte. Auf der anderen Seite des Tals, das sich etwa zwanzig Meilen in Richtung Westen erstreckte, konnte ich schon New York State mit seinen gewaltigen Adirondack-Bergen erkennen.
Ich saß lauschend und beobachtend in der Kälte, der Wald roch nach verbranntem Holz und ich spürte Walters Unruhe.
Nach einer kurzen Pause sagte er: »Es ist zu kalt, hier draußen zu sitzen. Ich melde uns an.« Er stand auf und nahm seinen Koffer. »Bleibst du hier sitzen?«, fragte er, während er auf die Tür zuging.
»Ja.«
Unser Zimmer lag auf der zweiten Etage am Ende eines knarrenden Flures. Zwei Doppelbetten standen sich gegenüber, dazwischen befand sich ein Giebelfenster, von dem aus man einen Blick auf die Berge hatte. Das Zimmer hatte auf beiden Seiten Dachschrägen, die sich genau in der Mitte trafen. Auf dem Parkettboden standen zwei mit Paisleystoff überzogene Sessel, dazwischen ein niedriger Beistelltisch. Ein wunderhübsches Zimmer für fünfundsiebzig Dollar die Nacht. Die frischen Schwertlilien in den Glasvasen auf beiden Nachttischen sorgten dafür, dass es im Raum wie in einer Gartenlaube roch.
Walter saß auf dem Bett und packte seine Sachen aus. Mein Koffer stand noch ungeöffnet auf dem Boden, während ich auf meinem Bett lag. Durch die Wände waren Stimmen zu hören, dann vernahm ich den hohlen Klang von Schritten auf der Treppe. Jemand klopfte.
Ich durchquerte den Raum und blieb vor der Tür stehen. Da sie keinen Spion hatte, fragte ich: »Wer ist da?«
»Melody Terrence.« Ich öffnete die Tür und stand einer hübschen langhaarigen Brünetten gegenüber, die für eine Pensionsbesitzerin viel zu jung und gut aussehend war.
»Hallo«, sagte ich.
»Finden Sie beide hier alles, was Sie brauchen?«, fragte sie.
»Aber klar.«
»Ich wollte nur sagen, dass in einer halben Stunde das Abendessen serviert wird, falls Sie Lust haben. Danny hat vergessen, das Schild wieder aufzustellen.«
»Danke für die Einladung.«
»Dann essen Sie also mit? Unten ist ein gemütlicher Speiseraum und Danny hat den ganzen Tag einen Vogel geräuchert. Dazu gibt es frisches Gemüse, selbst gebackene Brötchen…«
»Klingt verführerisch«, meinte ich, »also dann bis gleich.«
»Schön.« Sie lächelte und ging den Flur entlang zum nächsten Zimmer. Ich schloss die Tür.
Walter hatte gerade einen Stapel Hemden in eine Schublade gelegt, knallte sie jetzt zu und schaute wütend zu mir auf. »Und du willst ein Krimiautor sein? Wir sollen runtergehen und alle Gäste kennen lernen? Was, wenn dich einer erkennt, Andy? Falls es rauskommen sollte, dass Orson der Herzchirurg dein Bruder ist« – den schändlichen Spitznamen flüsterte er – »und in Woodside lebt, bräuchte man nur noch zwei und zwei zusammenzuzählen. Eventuell würde sich jemand daran erinnern, dass du zur gleichen Zeit, als David Parker verschwand, hier in Vermont warst. Und du weißt, dass das ausreichen würde, um uns das FBI auf den Hals zu hetzen.« Walter ging zum Giebelfenster, drehte mir den Rücken zu und schaute hinaus auf die mittlerweile dunklen Wälder. Der Mond musste erst noch über die Berge steigen, um sein mildes Licht zu verbreiten.
Ich ging zu meinem Freund.
»Walter«, sagte ich, doch er drehte sich nicht um. »Was ist los? Hast du
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