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Bruderherz

Titel: Bruderherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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auf mich verflogen war.
    »Weißt du wirklich, wo er steckt, Andy?«, flüsterte er.
    »Ich habe seinen möglichen Decknamen in New England aufgespürt. Ich kann natürlich erst sicher sein, wenn ich da war, aber ich bin ziemlich sicher, dass er es ist.«
    »Dann fährst du also definitiv dorthin?«
    »Ja.«
    Er hielt inne und schaute mich an. »Du fährst wirklich dorthin, um ihn umzubringen? Um ihn irgendwo in ein Loch zu werfen, wo er niemals gefunden wird?«
    »Genau das habe ich vor.«
    »Und du hast keine Gewissensbisse, deinen eigenen Bruder zu töten?«
    »Nein.«
    Wir gingen ein Stück weiter. Ich hatte eine fürchterliche Vorahnung.
    »Du hast die Polizei verständigt, nicht wahr?«, fragte ich.
    »Was?«
    »Du hast ihnen von Orson erzählt.«
    »Nein, Andy.«
    »Aber du hast es vor.« Er schüttelte den Kopf. »Warum nicht?«
    »Komm mal her, Jenna!«, brüllte Walter. Die Kinder wandten sich um und rannten zu uns zurück. Dabei hielten sie den Schirm so tief, dass ich sie nicht sehen konnte. Walter nahm Jenna den Schirm ab und hielt ihn hoch.
    »Jenna, zeig Onkel Andy das Tattoo, das du heute in der Schule bekommen hast.«
    »Au ja!«, rief sie, als sie sich daran erinnerte. »Schau mal, Andy, ist das nicht cool?«
    Jenna zog den Ärmel ihres Gewandes zurück und hielt mir die zarte Beuge ihres rechten Unterarms hin. Meine Knie wurden weich. Vom Ellbogen bis zu ihrem schmalen Handgelenk stand mit einem rosa Magic Marker geschrieben: W – Pssst.O.
    Ich schaute zu Walter auf. Seine Augen waren feucht.
    »In Ordnung, Kinder«, sagte er durch die Tränen lächelnd. »Hier. Lauft wieder vor, damit wir uns unterhalten können.« Jenna nahm den Schirm und rannte mit John David voraus, während wir langsam weitergingen. Der Briefkasten war nicht mehr weit entfernt.
    »Sie ist damit heute von der Schule nach Hause gekommen«, erklärte Walter. »Beth hat es bemerkt, als sie ihr das Kostüm anzog. Ihr Scheißlehrer wusste nichts davon. Jenna hat gesagt, ein netter Mann hätte allen Kindern Halloween-Tattoos gemalt. Sie hätte ihn noch nie gesehen.«
    »Himmel, Walter, ich…«
    »Ich will weder deine Entschuldigungen noch dein Mitleid«, flüsterte er. »Ich werde mit dir fahren. Um dir das zu sagen, bin ich hergekommen. Wir werden dieses Arschloch gemeinsam vergraben.«
    Die Kinder waren bei dem weißen Cadillac angekommen. Wir blieben ein paar Meter vom Ende der Auffahrt entfernt stehen. Walter drehte sich zu mir um.
    »Also, wann fährst du los?«
    »In ein paar Tagen. Ich muss hier weg, bevor meine Mutter gefunden wird.«
    Sein Blick wurde mitfühlend. »Andy, ich möchte, dass du weißt, wie Leid…«
    »Und ich brauche dein Mitleid nicht«, sagte ich. »Es wird keinem von uns dabei helfen, zu tun, was wir tun müssen.«
    Er nickte und blickte über die Schulter zu Jenna und John David. Sie hatten den Schirm auf den Boden geschmissen und warfen mit Kieselsteinen von der Auffahrt auf meinen Briefkasten, waren allerdings weit entfernt davon, ihn zu treffen.

Kapitel 21
     
    Der Vorabend meiner Abreise aus Vermont war unser fünfunddreißigster Geburtstag und Orson hatte mir eine selbst gebastelte Karte geschickt. Die Vorderseite bildete eine Collage aus Fotos, die er in dem widerwärtigen orangefarbenen Licht seiner Scheune aufgenommen hatte. Eine Nahaufnahme von Shirley Tanners Gesicht mit den Blutergüssen von dem Stiefeltritt; eine Aufnahme von Jeffs Leiche in einem Loch in der Wüste; Wilburs aufgeschnittener Torso auf der roten Plastikfolie.
    Unter der bunten Collage stand in Orsons unverwechselbarer Handschrift: Was kriegst du für den Kerl, der das alles hat? Und innen stand: Absolut nichts. Alles Gute zum Geburtstag von Shirley und der Gang.
     
    Woodside liegt am Fuße des Gebirges im mittleren Westen von Vermont und ist von den nördlich gelegenen großen Städten im Osten durch die Green Mountains und im Westen durch New Yorks Adirondacks abgeschnitten. Im Herbst ist es mit seinen atemberaubenden Aussichten auf wogende, hügelige Wälder und endlose Bergketten und mit einem malerischen, in einem Tal liegenden Universitätsstädtchen der Inbegriff amerikanischer Landschaft.
    Einem Tankwart zufolge waren wir drei Wochen zu spät dran. Bis dahin hatten die Wälder so bunt geleuchtet wie schon seit dreißig Jahren nicht mehr. Nun hingen nur noch wenige braune, tote Blätter an den Bäumen und der blaue Himmel leuchtete merkwürdig über der kahlen Winterlandschaft. Vermont im November besaß die gleiche

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