Bruderherz
geht die Tür auf.
»Andrew, bist du noch mal zurückgekommen?« Die Stimme meiner Mutter füllt den Keller und ich beginne zu zittern, mein Kopf bewegt sich unfreiwillig vor und zurück. Sie geht fünf Stufen hinab und hält inne. Ich kann jetzt ihre Beine sehen. Ich murmele in einem fort: »Nein, nein, nein«, als ob sie dadurch wieder hinaufgetrieben würde.
»Andrew?«, ruft sie. Keine Antwort. Nach drei weiteren Stufen beugt sie sich so weit vor, dass sie in den Keller spähen kann. Mehrere Sekunden lang streift ihr Blick das Durcheinander, dann richtet sie sich wieder auf und geht die Treppenstufen hinauf. Doch bevor sie die Tür erreicht, bleibt sie stehen und kommt dann bis zu dem Punkt, an dem sie bereits war, zurück und schaut direkt in die Kamera. Ich sehe Verwirrung auf ihrem Gesicht, aber noch keine Angst.
Meine Mutter geht vorsichtig die letzten Stufen hinab und bleibt vor der Kamera stehen. Sie trägt immer noch ihr grünes Kleid, das weiße Haar hängt jetzt offen herab. Sie blickt neugierig in die Linse, zwischen ihren Augenbrauen bildet sich eine markante Falte.
»HALLO, MUTTER!!!«, ruft Orson vergnügt. Sie schaut hinter die Kamera. Die Angst in ihrem Gesicht bringt mich fast um, und als sie aufschreit und zur Treppe rennt, fällt die Kamera auf den Zementboden.
Der Bildschirm wurde wieder blau und ich blieb für einige Sekunden vor Schreck erstarrt sitzen. Er hat unsere Mutter nicht umgebracht. Er hat… Ich roch Windex. Im nächsten Augenblick schlug ein harter, metallener Gegenstand gegen meinen Hinterkopf.
Auf dem Rücken neben meinem Sofa liegend, konnte ich durch das Fenster erkennen, dass in wenigen Stunden die Sonne aufgehen würde – diese violettblaue Färbung der Morgendämmerung schob bereits die Dunkelheit der Nacht beiseite. Ich kämpfte mich mühsam auf die Beine, während die weiche Beule auf meinem Hinterkopf unbarmherzig pochte.
Der Fernseher lief noch, also kniete ich mich hin und drückte auf den Ausgabeknopf des Videogeräts, doch das Band war bereits entnommen worden.
Nachdem ich in der Küche das Telefon wieder aufgelegt hatte, schleppte ich mich die Treppe zu meinem Schlafzimmer hinauf. Ich verstaute die Pistole wieder in der Schublade und legte mich auf die Decke, bereit, mich einer Welle aus Trauer und Verzweiflung hinzugeben. Ich schloss die Augen und versuchte zu weinen, aber der Schmerz war zu groß, zu surreal. Vielleicht war das ein neuer Alptraum? Vielleicht bin ich schlafwandelnd dort hinuntergegangen und habe mir den Kopf gestoßen. Einen völlig obskuren Traum geträumt. Das wäre eine Möglichkeit. Glaub daran. Sie schläft. Du könntest sie jetzt anrufen und sie wecken. Sie würde verärgert über meine Unverschämtheit ans Telefon gehen. Aber sie würde ans Telefon gehen und nur das zählt.
In der Dunkelheit griff ich zum Telefon und wählte die Nummer meiner Mutter.
Es klingelte und klingelte.
Dritter Teil
Kapitel 18
An einem kalten, klaren Halloween-Morgen schaute die Welt auf Washington, D.C. während sich Stadtpolizei, FBI, Secret Service und ein riesiger Schwarm von Pressevertretern um das Weiße Haus versammelt hatten. Es hatte vor Sonnenaufgang begonnen.
Um 4 Uhr 30 hatte eine Joggerin, die die East Street entlanggelaufen war, einen Stapel Kartons im gefrorenen Gras der Ellipse bemerkt, ganz in der Nähe des Nationalen Weihnachtsbaums. Wieder zu Hause, hatte sie die 911 gewählt.
Als die Polizei eintraf, war der Secret Service bereits vor Ort, da sofort der Verdacht geäußert worden war, die Kartons könnten Sprengstoff enthalten. Daher wurde der Präsident an einen sicheren Ort geflogen, das Personal des Weißen Hauses evakuiert und die East Street hinter dem Weißen Haus abgesperrt.
In Washington verbreiten sich schlechte Nachrichten sehr schnell. Um acht Uhr kampierten bereits die Teams der lokalen und überregionalen Fernseh- und Nachrichtensender entlang der Absperrung, die die Polizei zweihundert Meter von den Kartons entfernt errichtet hatte. Jeder Sender des Landes brachte die Nachricht, und so sah die ganze Welt zu, als gegen neun Uhr ein Bombenentschärfungsroboter auf den unheilvollen Kartonstapel zurollte.
Zwei Stunden lang zoomten die Kameras die Techniker in den Schutzanzügen heran, die mit Hilfe des Roboters und der Röntgengeräte jeden einzelnen Karton unter die Lupe nahmen. Die untersuchten Kartons wurden in einem gepanzerten Lastwagen gestapelt. Die Kartons wurden zwar geöffnet, doch
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