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Bruderherz

Titel: Bruderherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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die Klamotten hier wasserdicht?«
    »Nein.«
    »Dann vergiss es. Die Baumwolle wird sich voll Eiswasser saugen, in so tiefem Schnee brauchen wir mehrere Stunden bis zur Hütte. Schon mal was von Erfrierungen gehört?«
    »Ich riskier’s trotzdem. Ich bleib nicht noch eine Nacht mit dir hier im Auto.«
    Ich kramte den Schlüssel für die Handschellen aus der Tasche.
    »Es tut mir Leid, dass ich von Willard angefangen habe«, meinte er. »Andy?«
    »Was?«
    »Wirst du es wieder vergessen?«
    »Halt die Klappe!«
     
    Der Schnee reichte mir bis knapp an die Taille. Ich war noch nie durch so tiefen Schnee gegangen, jeder Schritt erforderte so viel Energie wie eine Treppenstufe für ein Kleinkind, das erst laufen lernt. Ich ließ Orson ein paar Meter vor mir hergehen, und genau wie er es vorausgesagt hatte, hatten wir noch keine fünfzig unbeholfenen Schritte getan, bis das Eiswasser durch sämtliche Schichten meiner Kleidung drang. Nach einer Viertelmeile fingen meine Knie vor Kälte an zu brennen, als würden sich Hunderte feiner Nadeln durch die wunde, rote Haut bohren. Jeder Schritt schmerzte. Doch auch das Stehenbleiben tat weh, und nachdem wir uns eine Meile durch den Schnee gekämpft hatten, brannten auch noch meine Augen von der Reflektion der Sonne auf den Eiskristallen. Ich überlegte, wie in aller Welt ich es bis zu dem winzigen schwarzen Punkt schaffen sollte, der immer noch am Horizont zu kleben schien.
    Orson trottete ohne Anzeichen von Schmerzen oder Müdigkeit gleichmäßig weiter. Das Brennen in meinen Beinen war so unerträglich geworden, dass mir der kalte Schweiß auf der Stirn stand.
    »Halt an!«, schrie ich, und Orson blieb sechs Meter vor mir stehen. Er trug zwei T-Shirts, ein Sweatshirt und eine schwarze Lederjacke übereinander. Seine Beine wirkten völlig unförmig unter der Latzhose, der Jogginghose und den Jeans, die ich ihm aus Walters Koffer herausgesucht hatte.
    »Was ist los?«, fragte er.
    »Ich muss nur mal Atem holen.«
    Nach einer kurzen Pause hob ich meinen mit Lebensmitteln gefüllten Koffer über den Kopf und wir gingen weiter. Meine Beine und Füße wurden schnell so taub, dass ich nur noch gegen den stechenden Schmerz in meinen Augen ankämpfen musste. Das Einzige, was dagegen half, war, die Augen zu schließen, doch solange Orson ohne Handschellen vor mir herging, konnte ich sie nicht lange genug schließen, um den Schmerz wirklich zu lindern.
     
    Als die Hütte nur noch drei Fußballfelder entfernt lag, spürte ich meine Beine überhaupt nicht mehr. Ich musste unablässig an die medizinische Definition für Schneeblindheit denken, auf die ich während meiner Recherchen für »Blauer Mörder« gestoßen war – ein Sonnenbrand der Hornhaut. Allein schon bei dem Gedanken daran traten mir Tränen in die Augen, und ich konzentrierte mich ganz darauf, Orson in das eine Schlafzimmer einsperren zu können und unter seiner Fliesdecke in der wohltuenden Dunkelheit der Hütte einschlafen zu können.
    Orson drehte sich zu mir um, und ich konnte nicht glauben, dass ich es jetzt erst bemerkte. Er trug meine Sonnenbrille. Hast du sie von der Ablage auf dem Armaturenbrett runtergeworfen, als wir uns für diese Schneewanderung angezogen haben? Ich wollte ihn anbrüllen, stehen zu bleiben, doch dann dachte ich: Scheiß drauf, wir sind fast da.
    Selbst das Blinzeln half nicht mehr, meine Augen vor dem grellen Glitzern zu schützen, so schloss ich sie einen Moment lang ganz und es fühlte sich wundervoll an. Ich lasse sie nur einen kurzen Augenblick geschlossen, dachte ich und kämpfte mich ungeschickt und blind weiter durch den Schnee.
    Nach sechs großen Schritten öffnete ich die Augen, um Orson wieder beobachten zu können.
    Er war verschwunden.
    Ich ließ den Koffer fallen, holte meine Glock aus dem Hosenbund und blickte mich in alle Richtungen um – nichts als weicher, unendlicher Schnee, der hier und da kleine Hügel bildete.
    »Orson!« Ich schrie, meine Stimme überschlug sich und schallte über die blendend weiße Fläche. »Orson!« Absolute Stille, nicht einmal der Wind war zu hören. Bei dem Versuch, seinen Spuren zu folgen, brannten meine Augen sofort wieder und das Salz der Tränen verschlimmerte den Schmerz.
    Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass jemand hinter mir war. Ich drehte mich um und zielte mit der Waffe in Richtung des Autos. Der Schnee glitzerte unberührt und menschenleer. Angst kroch mir den Rücken hinauf. Der weiße, unter dem Schnee halb verborgene Lexus war nur

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