Bruderkampf
Hauptmann Rennies Seesoldaten sollten in der Lage sein, jeden aufzuhalten, der noch immer zu desertieren hoffte. Selbst ein Verzweifelter würde es sich zweimal überlegen, bei der bewegten See von der Fregatte bis zum Land zu schwimmen.
Er sah Herrick flüchtig an. »Sie sind zwei Jahre an Bord, glaube ich?« fragte er unvermittelt. Herricks Blick wurde sofort mißtrauisch. Der Leutnant hatte ein offenes, angenehmes Gesicht, und doch verriet es von einer Sekunde zur anderen jene Zurückhaltung und Vorsicht, welche die Haltung der ganzen Besatzung kennzeichnete. »Dem Logbuch nach waren Sie Wachoffizier, als die Unruhe ausbrach?«
Herrick preßte die Lippen zusammen. »Ja, Sir. Wir kreuzten von Lorient herauf. Es war während der Mittelwache und ruhig für die Jahreszeit.«
Bolitho bemerkte Herricks Unsicherheit und spürte einen Anflug von Mitleid. Es war nicht einfach, der Dritte Offizier eines Kriegsschiffs zu sein. Ohne Glück oder Einfluß wurde man nur schwer und langsam befördert. Er erinnerte sich an seine erste Chance. Wie leicht hätte alles anders kommen können, aber mehrere glückliche Zufälle trafen zusammen. Zur Zeit der amerikanischen Rebellion fuhr er als Leutnant auf einem Linien schiff. Man übertrug ihm das Prisenkommando einer gekaperten Brigg. Während er nach Antigua segelte, stieß er auf einen Freibeuter. Er täuschte den gegnerischen Kapitän, der die Brigg noch immer für einen Verbündeten hielt. Seine Leute enterten das Schiff, ein schneller und wilder Waffengang, und die Prise war sein. Bei der Ankunft in Antigua hieß ihn der Oberbefehlshaber wie einen Helden willkommen, denn Siege waren selten, Niederlagen hingegen nur zu häufig.
So übertrug man ihm mit zweiundzwanzig Jahren des Kommando der Sparrow. Wieder war Glück im Spiel. Der Kapitän der Korvette war an Fieber gestorben, und ihr Erster Leutnant war für den begehrten Posten zu jung gewesen.
Er unterdrückte die aufkeimende Teilnahme. »Wie viele Männer waren an der Meuterei beteiligt?«
»Nicht mehr als zehn«, antwortete Herrick bitter. »Sie versuchten, einen Matrosen namens Fisher zu befreien. Kapitän Pomfret hatte ihn am Tag zuvor wegen Insubordination auspeitschen lassen, weil er sich über das schlechte Essen beschwerte.«
Bolitho nickte. »Das ist nicht ungewöhnlich.«
»Aber dem Kapitän reichte es noch nicht.« Herricks Worte überschlugen sich jetzt. »Er ließ ihn an den Bugspriet binden, ohne dem Wundarzt zu erlauben, den Rücken des Mannes zu behandeln.« Herrick schauderte zusammen. »Es geschah in der Biskaya, die Takelage war vereist, aber er ließ den Mann, der nur noch ein Klumpen blutiges Fleisch war, da draußen festgebunden hängen.« Herrick gewann mit Mühe die Fassung zurück und murmelte: »Entschuldigen Sie, Sir, aber es steht mir noch immer vor Augen.«
Bolitho dachte an Pomfrets glatte, nüchterne Eintragung im Logbuch. Danach waren die aufbegehrenden Seeleute aufs Achterdeck gedrungen und hatten den Steuermann und den Steuermannsmaat überwältigt. Nur Herrick, der offensichtlich die Beschwerden als berechtigt ansah, stand zwischen ihnen und einer totalen Meuterei. Auf irgendeine Weise war es ihm gelungen, sie zu beschwichtigen. Er befahl ihnen, aufs Vorderdeck zurückzugehen, und sie gehorchten, weil sie ihm vertrauten. Am folgenden Tag brach Pomfrets Rache über das Schiff herein, eine Woge von Grausamkeit. Zwanzig Leute wurden ausgepeitscht, zwei gehenkt. Pomfret wartete damit nicht, bis die Phalarope wieder Anschluß an das Geschwader gewann, wo ein Vorgesetzter den Fall zu beurteilen gehabt hätte. Herricks Bitterkeit war offenbar begründet. Oder doch nicht? Formal gesehen, hatte Pomfret recht gehandelt. Herrick hätte die drohende Gefahr vorhersehen und auf die Meuterer schießen lassen müssen. Er hätte die Achterwache rufen, ja, falls notwendig, sein Leben einsetzen müssen. Bei dem Gedanken, was passiert wäre, wenn Herrick ebenfalls überwältigt worden wäre, während er mit den aufgebrachten Seeleuten verhandelte, überlief Bolitho ein Schauder. Die schlafenden Offiziere wären abgeschlachtet worden, und auf dem Schiff wäre, mitten im feindlichen Gewässer, das Chaos ausgebrochen.
»Und später, als Sie vor Brest zur Flotte stießen und es mit den französischen Schiffen zum Kampf kam, warum hat da die Phalarope nicht eingegriffen?«
Wieder gaben Herricks Züge seine Gemütsbewegungen preis, seine Unsicherheit und seinen Zorn. Und da ging Bolitho ein Licht auf.
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