Bruderschatten
Gebüsch, das viel höher war als die Buchenhecke seiner Großmutter. Ihn schauderte. Die Büsche durften hier nicht sein. Er lief weiter und hoffte, doch noch die Schienen zu finden. Der Rucksack drückte schwer auf seine schmalen Schultern, während er fieberhaft nach den Gleisen Ausschau hielt und mal hier, mal dort mit den Stiefelspitzen im Schnee nach ihnen scharrte. Es hatte keinen Sinn.
Einen Moment hielt er inne und überlegte, ob er umkehren sollte. Doch die Angst trieb ihn vorwärts, weg von dem Haus, von der Scheune, von dem Blut.
Er ballte seine Hände zu Fäusten und stapfte weiter.
Der Junge war müde. Die Welt, die auf den Feldern im Sommer bis an den Horizont reichte, war zu einem Tunnel aus windgepeitschtem Schnee geschrumpft, durch den er sich mit schwerer werdenden Beinen hindurchkämpfte.
Er blieb stehen, holte tief Luft – und dann begann er zu weinen.
Das tat er selten. Eigentlich fast nie. Zu Hause war er für seine kleine Schwester Pauline der große, starke Bruder, und der weinte nicht, sondern hatte alles im Griff.
Pauline war erst sechs und glaubte noch an den Weihnachtsmann. Er hatte schon mit vier Jahren gewusst, dass alle ihn belogen. Weihnachtsmänner gab es nicht. Genauso wenig wie den Osterhasen, den schwarzen Mann oder irgendwelche Nachtgespenster.
Im August war er zehn geworden, und eigentlich sollte er hier draußen nicht heulend herumstehen, sondern sich etwas einfallen lassen. Nur was?
Er dachte scharf nach und biss dabei auf seiner Unterlippe herum, obwohl er das nicht sollte. Er bekäme davon nur ein Hasengebiss mit weit nach vorn stehenden Zähnen, und keiner würde ihn dann noch ernst nehmen, hatte Lauren, seine Mutter, ihm eingetrichtert. Dabei nahmen die Kinder in seiner Klasse ihn sowieso nicht ernst.
Seine Mutter … Laut schluchzte er auf.
Ihm musste etwas einfallen. Normalerweise fiel ihm immer etwas ein. Selbst seine Mutter hatte sich lange darauf verlassen, dass ihm stets eine Idee kam, seitdem er … ja, seitdem er mit acht Jahren mit einem Schürhaken auf seinen Onkel losgegangen war.
Sein Onkel war kein guter Mensch. Aber er gehörte zur Familie. Und die sei wichtig, hatte sein Großvater ihm früher gesagt. Eine Familie müsse immer zusammenhalten.
Sein Vater hatte nicht zu ihnen gehalten. Er war schon vor langer Zeit fortgezogen. Er arbeitete als Bauleiter für eine große Ölgesellschaft, weshalb er in der ganzen Welt unterwegs war und sie nicht besuchen konnte. Aber der Junge glaubte, dass ihr Vater auch gar nicht kommen wollte.
Im letzten Sommer war dann der Großvater gestorben. Seitdem schaute Onkel Hinner abends oft vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. So nannte er das.
Hinner brüllte ihn manchmal an, und Lauren brüllte er sowieso oft an, wenn er glaubte, Pauline und er würden schon schlafen. Manchmal, wenn Hinner abends zu Besuch gewesen war, hatte Lauren unten in der Küche geweint. Der Junge wusste das, weil er oben im Flur gestanden und gelauscht hatte.
An jenem Abend hatten seine Mutter und sein Onkel unten in der Küche wieder gestritten. Er hatte es bis oben in sein Zimmer gehört, so laut hatte Hinner Lauren angebrüllt.
Zitternd und mit klopfendem Herzen hatte er gelauscht und sich vor der Wut des Onkels gefürchtet. Noch größer aber war seine Angst gewesen, Hinner könnte seine Mutter so fest schlagen, dass sie ins Krankenhaus käme. Dann müssten er und Pauline bei Onkel Hinner und Tante Doreen wohnen, und das konnte er unter keinen Umständen zulassen. Deshalb war er trotz dieser wilden Angst in seinem laut pochenden Herzen ins Wohnzimmer gestürzt und hatte den Schürhaken aus dem Kaminbesteck gerissen.
Er traf seinen Onkel dreimal. Auf den Rücken, in die Kniekehlen und dann noch einmal an der Hüfte. Als sein Onkel sich umdrehte, wich er zurück, bis der Küchenschrank hinter ihm den Rückzug stoppte. Sein Onkel riss ihm den Schürhaken aus der Hand und verprügelte ihn mit seinem Gürtel, so dass er drei Tage lang weder sitzen noch zur Schule gehen konnte. Aber das war nicht das Schlimmste gewesen.
Am schlimmsten war, dass er an diesem Abend seine Sprache verloren hatte. Es war nicht so, dass ihm die Wörter nicht einfielen. Die Wörter standen wie klare Zeichnungen in seinem Kopf. Manche dick und rund wie saftige Äpfel, manche kurz und klein wie Samenkörner, andere so biegsam wie Weidenruten und wieder andere wie ein Labyrinth voller Kringel und Kreise. Er sah jedes einzelne Wort vor seinem inneren Auge, doch er
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