Bruderschatten
war unfähig, es auszusprechen, sosehr er sich auch bemühte.
Seit diesem Tag geschah es immer mal, dass er nicht sprechen konnte, wenn er sich aufregte. Es war ein hoher Preis, doch immerhin hatte Hinner aufgehört, seine Mutter zu schlagen.
Tröstlich war, dass Lauren ihm drei Tage lang seine Lieblingsspeisen kochte. Dampfende Pfannkuchen mit Apfelmus, Kartoffelbrei mit schwarz glänzender Leber, Grießbrei mit dunkelroten heißen Kirschen. Jedes Mal war es ein Fest für ihn und seine Schwester, denn seine Mutter kochte nur selten. Meistens holte sie ein Fertiggericht aus dem Tiefkühler und erhitzte es in der Mikrowelle.
»Hallo?«
Der Junge wischte sich mit einer hastigen Bewegung die Tränen von den Wangen, hob das Gesicht und streckte es in den stürmischen Wind wie Wild, das Witterung aufnimmt.
»Hallo?!«, rief die Stimme erneut. Es war eine hohe, helle Stimme.
Eine Sturmböe erfasste den Jungen und zerrte an seiner Jacke. Er stemmte sein ganzes Gewicht dagegen und regte sich nicht. Er starrte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und erkannte die Umrisse einer Frau in einem langen dunklen Mantel und derben Männerstiefeln. Die Frau trug ein Gewehr über der Schulter und hielt einen Hasen in der Hand. Langsam kam sie auf ihn zu.
Sie war klein und hatte eine Mütze tief ins Gesicht gezogen. Unter der Mütze kringelten sich feuchte, graue Haare in die Stirn, und ihre Augen waren von einem dichten Netz Falten umgeben. Sie sah alt aus. Älter als seine Mutter, aber nicht ganz so alt wie seine Großmutter.
Als sie so nah war, dass der Junge sie erkannte, erschrak er und wich instinktiv einen Schritt zurück.
»Hallo«, sagte die Frau ein drittes Mal.
Der Junge antwortete nicht. Sein Großvater hatte ihm verboten, mit der Frau zu sprechen. Er hatte auch verboten, mit ihr mitzugehen. Er sollte überhaupt niemals mit Fremden mitgehen. Er sollte auch mit niemandem sprechen.
Doch vor allem sollte er niemals mit dieser Frau reden.
»Bist du allein?«, fragte die Frau.
Er starrte auf seine Schuhspitzen und überlegte fieberhaft, was er jetzt tun sollte. Im Sommer wäre er einfach weggelaufen. Doch jetzt? Er wusste ja nicht einmal mehr, wo er war.
»Hast du dich verlaufen?«
Der Junge sah auf. Dann nickte er wortlos. Nicken war erlaubt. Es war kein Sprechen.
»Du musst dir keine Sorgen machen«, sagte die Frau und machte einen Schritt auf ihn zu.
Der Hase baumelte in ihrer Hand hin und her.
»Du bist doch Heineckens Enkel, oder?«
Der Junge zuckte zusammen und zog die Schultern hoch.
»Willst du zu deinen Großeltern?«, fragte die Frau.
Energisch schüttelte er den Kopf.
»Suchst du die Straße?«
Wieder schüttelte er den Kopf.
»Ich bin Henny Langhoff.« Die Frau lächelte ihn an. Ihre Lider schlossen sich zu schmalen Schlitzen, in denen die kleinen, grauen Augen fast verschwanden.
Der Junge schwieg. Sein Magen gefror zu einem Klumpen Eis. Der Großvater hatte ihm erzählt, dass die Frau auf Tiere schoss und sie dann aß. Wenn sie keine Tiere fand, schoss sie auf Kinder, die von zu Hause weggelaufen waren. Er war froh, dass sie einen Hasen in der Hand hielt. Heute würde sie nicht auf Kinder schießen.
Er beruhigte sich ein wenig. Sein Blick schweifte noch einmal umher auf der Suche nach etwas Bekanntem. Doch weit und breit war nur Schnee.
»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagte die Frau und lachte gurrend. »Ich weiß, was die Alten hier über mich erzählen, damit die Kinder nicht über die Felder stiften gehen, wenn sie zu Hause Ärger haben. Glaub ihnen nicht. Sie reden dummes Zeug.«
Sie sah ihn mit ihren kleinen Augen an, als erwartete sie eine Antwort auf eine Frage, die sie gar nicht gestellt hatte.
»Du kommst jetzt erst einmal mit«, sagte sie schließlich bestimmt.
Der Junge drehte sich noch einmal um, dann sah er zu der Frau. Einen Moment lang blieb sein Blick an dem Gewehr hängen.
Er begriff, dass er keine Wahl hatte.
5
Ich passierte die alte Grenzanlage, von der aus es nicht mehr weit bis Solthaven war. Über Nacht hatte man die Grenze einst errichtet, über Nacht war sie gefallen. Lediglich ein Schild und die grauen Kolonnenwege erinnerten noch daran, dass Deutschland hier einmal geteilt war. Wie jedes Mal, wenn ich auf der Fahrt zu meinen Eltern den ehemaligen Todesstreifen passierte, befiel mich auch dieses Mal Beklommenheit.
Für meinen Sohn würde es später unvorstellbar sein, dass unsere Welt hier früher einmal zu Ende war. Einfach so.
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