Bruderschatten
könnte es gewesen sein und Leo danach so unter Druck gesetzt haben, dass er einfach verschwinden musste. Paul hätte die Möglichkeit dazu gehabt. Und dann haben er und sein Kumpel Kortner es so gedreht, dass es aussah, als wäre Leo der Täter gewesen.«
»Vermuten Sie das, oder wissen Sie es?«, fragte ich, und mir war bewusst, dass ich ihr dieselbe Frage bereits am Anfang unseres Gesprächs gestellt hatte.
»Ich vermute es aus guten Gründen«, sagte sie. »Ich habe damals mit Ihrer Nachbarin von gegenüber gesprochen. Wir kennen uns ganz gut, unsere Mütter waren früher befreundet. Ich habe ihr ins Gesicht gesagt, dass Paul ihr irgendwas besorgt hat, damit sie nicht aussagt, dass er auch in der Garage war. Sie hat geweint, weil sie sich so geschämt hat. Heinecken hätte ihr gedroht, sagte sie. Wenn sie auch nur einen Ton darüber sagte, bringt er ihren Hund vor ihren Augen um. Und er hat ihr damals Außenwandheizungen für jedes Zimmer besorgt. Fünf Stück. Erinnern Sie sich, wie schwer es war, an die Dinger ranzukommen? Und sie hat prompt vergessen, dass sie Paul gesehen hat.«
»Warum haben Sie nie etwas gesagt?«
»Ich habe genauso viel Angst wie sie«, sagte sie. »So einfach ist das. Ich habe seit zwanzig Jahren Angst, dass Paul erfährt, was ich weiß.«
»Und trotzdem kommen Sie hierher und reden mit mir.«
»Kriegen Sie den Mistkerl. Ich wünsche Ihnen Erfolg, ob Sie es nun glauben oder nicht.« Sie versuchte zu lächeln. Das Lächeln kam nicht über die Lippen hinaus. Sie ließ meine Hand los, drehte sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen war.
Ich schaute ihr nach, bis der Wald ihre Gestalt verschluckte.
Ich musste Lauren fragen, weshalb sie Nora Schnitter zu meiner Mutter geschickt hatte. Ich musste herausfinden, weshalb meine Mutter der jungen Frau Leos Uhr gegeben hatte.
Nur leider sprach Lauren nicht mit mir.
49
»Knacken Sie Lauren«, hatte Paula Wenner gesagt.
Ich saß zu Hause in der Küche, die Hände um eine Tasse heißen Kakao gelegt. Der Satz lärmte in meinem Kopf. Zwei andere Sätze gesellten sich dazu: »Ich kenne Leo. Er war es nicht.« Max hatte sie am Abend zuvor ausgesprochen, bevor er eingeschlafen war.
Ich hatte vorhin gewartet, bis mein Vater auf den Friedhof gefahren war. Erst danach hatte ich Max gefragt, woher er Leo kennen würde.
»Ich hab geträumt«, hatte er gesagt. »Da war ein Mann, und der hieß Leo. Er ist in ein Flugzeug gestiegen und weggeflogen. Er musste in den Krieg. Seine Feinde waren seine eigenen Blutsbrüder. Er ist dort gestorben.«
Ich hatte nach dem Aussehen des Mannes gefragt, und er hatte ihn beschrieben. Seine Beschreibung entsprach ziemlich genau den Fotos, die in Leos Zimmer hingen.
Ich hatte wehmütig gelächelt, weil die Fotos seines Onkels ihn bis in seine Träume begleiteten, und ihn an mich gezogen.
Mit seiner Antwort hatte ich mich zufriedengegeben, denn Kinder träumten nun mal viel. Ich hatte mich damit beruhigt, dass er die angebliche Geschichte seines Vaters mit der seines Onkels vermengt hatte.
Die Sache besaß nur einen Haken: Sie stimmte nicht. Max hatte mich belogen.
Ich trank den Kakao aus und ging nach oben in Leos Zimmer. Schon im Flur hörte ich, dass Max das Radio eingeschaltet hatte. Stampfende Bässe, ohrenbetäubendes Schlagzeug. Deutscher Rap.
Max lag ausgestreckt auf dem Bett, den Rücken an das Kopfteil gelehnt, die Füße im Rhythmus wippend, und er las in einem »Spiderman« aus Leos Comicsammlung.
Über den Rand des Comics hinweg sah er mich an.
Ich schaltete das Radio aus, Max’ Füße stellten das Wippen ein. Ich setzte mich zu ihm und nahm ihm den Comic aus der Hand.
»Wir müssen uns unterhalten«, sagte ich.
Er rutschte weiter nach oben, so dass er jetzt vor mir saß. Er sah weder zerknirscht aus noch so, als hätte er ein schlechtes Gewissen.
Ich holte tief Luft. »Hast du mit Daniel telefoniert?«
»Ja«, sagte er und griff nach dem Comic. Ich legte meine Hand auf seine.
»Ich hab mit Opa gelernt. Opa hat mir neue Textaufgaben zum Rechnen gegeben.«
»Das ist fein«, sagte ich und atmete erleichtert aus. Der Gesprächsauftakt war schon mal gelungen.
Er zog an dem Comic, meine Hand umschloss seine fest.
»Du hast nicht von Leo geträumt«, sagte ich. »Du kennst ihn.«
Max kräuselte leicht die Lippen und blickte nach unten.
»Wer hat dir von den Blutsbrüdern erzählt? Wer, dass sie Leos Feinde sind?«, fragte ich und sagte dann mit meiner strengsten, mütterlichen Stimme:
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