Bruderschatten
wegen Schnickschnack und diskutierte über Belanglosigkeiten.
Als Charles starb und Leo verschwand, gab es nichts mehr zu diskutieren, sondern etwas zu lernen, und ich lernte. Ich kann dabei keine neuen oder originellen Wahrheiten verkünden, nur die altbekannten: Sei freundlich zu deinen Mitmenschen, bedanke dich jeden Tag. Lebe den Augenblick, genieße, was du hast.
Diese Lehren haben mir weder die Trauer noch den Schmerz genommen. Aber sie haben mir etwas gegeben: mehr Mitgefühl, mehr Verständnis für den Schmerz anderer und mehr Toleranz.
Und davon brauchte ich eine ganze Menge, als ich Paula Wenner am Montagmittag traf.
Gregor Patzig lag auf dem Rücksitz meines Autos, eingewickelt in Max’ Kinderdecke, die Füße in den alten, dicken Armeestiefeln meines Vaters. Er war meine Lebensversicherung.
Es spielte nur eine untergeordnete Rolle, dass Carsten Unruh oder Felix Kortner dadurch erfuhren, dass ich mich mit Paula Wenner am Bismarckturm traf. Doch es spielte eine entscheidende Rolle, dass ich mich nicht allein mit ihr in dieser menschenleeren Einöde traf. Denn nicht nur die Polizei überwachte jeden meiner Schritte. Irgendjemand tat es außerdem. Deshalb hatte ich Gregor Patzig in mein Vorhaben eingeweiht und ihm die Stiefel meines Vaters aufgedrängt.
Der Turm auf dem Schwarzen Berg war 1900 zu Ehren Bismarcks eingeweiht worden, zu DDR-Zeiten jedoch zunehmend verfallen. Ich liebte den Berg, weil mein Vater hier früher mit uns Kindern rodelte und ich hier das erste Mal auf Kinderskiern stand.
An Tagen wie diesen allerdings war es nicht empfehlenswert, den Turm hinaufzusteigen. Scharfe Ostwinde peitschten um die Ecke und trieben mir Tränen in die Augen. Ich suchte Schutz im Eingangsbereich, den Rücken an die Wand gepresst, und schaute nach unten auf einen Weg, der verschneit zwischen hohen Tannen zum Berg heraufführte und den ich ohne den Allradantrieb meines Audis niemals bewältigt hätte.
Paula Wenner kam zu Fuß den Weg herauf. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen, doch ihre Erscheinung passte zu der Stimme am Telefon. Sie war mittelgroß, hatte mittelbraune Haare mit grauen Strähnen, graue Augen ohne Glanz, und ebenso glanzlos wie ihre Augen war ihre Kleidung: graue Daunenjacke, blaue Hose, schwarzer Schal und eine grobgestrickte schwarze Mütze, die wie ein Ballon auf ihrem Kopf saß. Ich schätzte sie auf Mitte 60. Bevor ich auch nur ein Wort mit ihr gewechselt hatte, war sie mir unsympathisch.
Sie hatte gelitten, wie auch ich gelitten hatte. Doch sie trug ihren Schmerz wie eine Auszeichnung vor sich her. Er strömte aus jeder Pore ihrer Haut, aus jeder Bewegung, die sie machte, aus jedem Wort, das sie sagte. Paula Wenner war den Steilhang der Verzweiflung hinabgestürzt und als Märtyrerin wieder emporgekrochen.
Ich winkte ihr zu und ging ihr ein paar Schritte entgegen, den Kopf gegen den eisigen Wind nach unten gebeugt.
»Sind Sie verfolgt worden?«, fragte sie, sah sich hastig und nervös um und zog mich am Ärmel meiner Jacke in den windgeschützten Eingangsbereich zurück.
»Wie bitte?«
»Meine Güte, ob Sie verfolgt wurden? Ist Ihnen ein Auto gefolgt?«, wiederholte sie ungehalten und spähte um die Ecke.
»Nein.« Es war nicht schlimm, dass ich sie nicht mochte. Sie mochte mich auch nicht.
»Hören Sie«, sagte sie und wandte sich mir wieder zu. »Ich werde mich nur dieses eine Mal mit Ihnen unterhalten.«
»Fürchten Sie sich? Haben Sie Angst?« Ich gab mir wirklich Mühe.
Sie ging nicht darauf ein, sondern klopfte den Schnee von ihrer Daunenjacke und schüttelte dabei mit hoheitsvoller Miene den Kopf. »Sie begreifen es nicht, nicht wahr?«
»Was?«
»Worum es geht.«
»Nein«, sagte ich. »Worum soll es gehen?«
»Ich denke, Sie haben den Schuhkarton?« Sie zog ihre Handschuhe aus und schlug sie gegen die Turmwand. Schneestaub wehte auf den Boden.
»Was war da schon drin? Eine alte Tasse, Bleistifte, zwei Kulis, zwei Kladden mit Notizen zu uralten Geschichten, die nichts mit meiner zu tun haben. Und ein altes Aufnahmegerät.« Ich log mit Bedacht. Ich hatte keine Ahnung, wie viel sie wusste, und ich wollte ihr um keinen Preis mehr mitteilen, als notwendig war.
Paula Wenner lachte auf und streifte die Handschuhe wieder über. Es war kein freundliches Lachen. »Sie ahnen also noch nicht einmal, dass das alles nur mit den Heineckens zusammenhängt?« Sie wusste eine Menge.
»Was hängt mit den Heineckens zusammen?«
»Hören Sie sich das Band an«, sagte sie.
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