Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bruderschatten

Bruderschatten

Titel: Bruderschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
Vom Netzwerk:
mit dem Reißverschluss meiner Jacke beschäftigt, als er bereits loslief. Ich hatte Mühe, ihn einzuholen.
    »Sie haben es ja eilig.« Ich vergrub meine Hände in den Jackentaschen, als ich ihn erreicht hatte.
    »Ich will Ihnen etwas zeigen«, sagte er mürrisch.
    Als wir vom Hauptweg abbogen, ahnte ich, wohin er mich führen würde. Unter gleichmäßig gestutzten Bäumen folgten wir dem Weg zu den Urnengräbern, die abgeschirmt hinter einer mächtigen Rhododendrenhecke lagen. Was sollte das werden?
    Er blickte stur geradeaus. Etwas in seinem Profil wirkte weich und nachgiebig. Eine runde hohe Stirn, die Nase weich gebogen, ein voller Mund, darunter ein rundliches Kinn. Auf dem Kopf ein beigebraun karierter Fedora-Hut, der von jeder Generation zwischen Humphrey Bogart und Johnny Depp neu entdeckt wurde. Bei Kortner bedeckte er die Glatze, die sich schon kreisförmig auszubreiten begann, als er Leo das erste Mal verhaftet hatte.
    Vor Charles’ Grabstein blieb er stehen.
    Mein Blick glitt über den Namen und das Geburtsdatum. Er verharrte auf dem Todestag. 20. August 1989.
    Es war der Tag, an dem ich Charles das letzte Mal küsste und das letzte Mal mit ihm sprach. Es war auch der Tag, an dem ich das letzte Mal mit Leo sprach. Wir stritten über etwas, an das ich mich nicht mehr erinnern konnte.
    »Solange die Konstitution Ihrer Mutter es erlaubte, kam sie jeden Tag hierher. Haben Sie das gewusst?«
    Ich schüttelte den Kopf. Die Trauer lag auf einmal so schwer auf mir wie die schwarze Marmorplatte, die Charles’ Grab bedeckte.
    Ein Bild stieg in mir auf. Ich sah Charles, wie er in seinem Zimmer auf dem Bett saß, den Rücken an die Wand gelehnt. Er trug einen ausgeleierten, blauen Sweater und eine verwaschene Jeans und spielte für mich Gitarre. Ich sah die Konzentration in seinem Gesicht, wie die Finger über die Saiten glitten, wie sich seine Augen bei manchen Riffs verengten, während er sang. Sein Lächeln, als er zu mir schaute, weil er spürte, dass ich ihn ansah. Es war ein Bild in weichen Farben, voller Zärtlichkeit und Intimität.
    Ein Bild ohne Ton.
    Ich wusste, dass er gesungen hatte. Ich wusste, was ich damals gehört und empfunden hatte. Doch ich hörte seine Stimme nicht mehr. Sie war mir schon vor langer Zeit verlorengegangen.
    Würde ich mich irgendwann nicht mehr an seinen Geruch erinnern? Würden eines Tages auch die Bilder gelöscht sein?
    Und dann? Ich besaß Fotos von Charles, ein paar alte Briefe, kleine Zettel mit Liebesbotschaften und meine Tagebücher. Ich konnte sie betrachten oder lesen, wann immer ich wollte. Doch all die Szenen, Erinnerungen und Eindrücke, für die es keine Fotos gab? Der Geruch seiner Haut, das samtige Gefühl, wenn ich meine Hand in seine schob, das Kratzen seiner Wange an meiner, wenn er sich nicht rasiert hatte. Wann wäre das alles endgültig verloren?
    Ich war wieder 19 und hätte mein Gesicht so gern in Charles’ altem Sweatshirt vergraben. Ich sah die weißen Halbmonde seiner Fingernägel vor mir, spürte die weiche Haut seiner jungenhaft schmalen, doch kräftigen Hände und erinnerte mich an die blonden widerspenstigen Haare auf seinen Waden, über die ich so gern mit den Fingerkuppen gefahren war.
    Ich wischte eine Träne aus dem Gesicht, eine verstohlene, flüchtige Geste, von der ich hoffte, sie bliebe unbemerkt.
    »Was wissen Sie über die Ereignisse von damals?«, unterbrach Kortner meine Gedanken.
    »Das wissen Sie doch«, sagte ich. »Sie haben mich verhört und mir unterstellt, dass ich meinen Bruder decken würde und genau wüsste, wo er sich versteckt hielt.«
    »Das tat ich nicht«, sagte er.
    Ich zuckte zusammen. »Erinnern Sie sich nicht mehr, oder wollen Sie sich nicht mehr erinnern?«, fragte ich. »Sie waren beleidigend und grob. Sie drohten mir sogar damit, nicht studieren zu dürfen, wenn ich nicht kooperierte.«
    »Ich erinnere mich an alles«, sagte er. »Ich habe nicht ein Wort von dem vergessen, was Sie oder ich damals gesagt haben.«
    »Aber Sie haben mir nicht geglaubt.«
    »Doch«, sagte er. »Ihnen glaubte ich jedes Wort.«
    Er starrte immer noch geradeaus auf den Grabstein und zuckte mit keiner Wimper. Fast hätte ich ihm gesagt, er sollte endlich auf den Punkt kommen. Etwas an seinem Gesichtsausdruck hielt mich jedoch zurück.
    Der Felix Kortner, der hier neben mir stand, war ein gebrochener Mann.
    »Gestern bekamen wir einen Anruf«, fuhr er fort. »Hinner Heinecken informierte uns, dass auf dem Grundstück seiner Mutter eine

Weitere Kostenlose Bücher