Bruderschatten
Vertrauens? Keines Zusammenhalts? Keiner Familie?
»Beruhigen Sie sich doch.«
Kortner stand über mir, denn ich hockte immer noch im Schnee. Ich hatte ihn längst vergessen. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ich laut sprach.
Er reichte mir seine Hand, doch ich stieß sie weg und sprang auf. Kurz taumelte ich. Kortner wollte mich stützen, aber ich stieß ihn zur Seite und rannte an ihm vorbei. Er rief hinter mir her, ich solle warten, er müsse mir noch etwas sagen. Ich drehte mich nicht einmal mehr um. Bevor ich in den Hauptweg einbog, hörte ich erneut Kortners Stimme, ich solle nichts Unüberlegtes tun. Ich lief. Weit hinter mir rief er: »In einer halben Stunde auf dem Revier!«
Ein paar Mal kam ich auf dem gefrorenen Schnee ins Rutschen, fing mich und lief weiter.
Am Friedhofseingang kam mir eine Frau in einem wadenlangen Pelzmantel entgegen. Sie zog einen Mischlingshund hinter sich her, der an der Leine zerrte und mir den Weg versperrte. Als ich an ihm vorbeiwollte, bellte er und stürzte sich auf mich.
»Liebilein«, säuselte die Frau und zog heftig an dem roten, mit Nieten besetzten Halsband. Der Hund kläffte weiter, die Frau zog, bis er röchelte und sich setzte.
»Ich beiße nicht«, sagte ich atemlos zu Hund und Herrin.
»Bist du das?«, fragte die Frau und sah mich an. »Julie?«
»Rita?«, fragte ich überrascht, während sie mich weiter anstarrte.
Hinter mir hörte ich Kortner erneut meinen Namen rufen.
Es war nicht der richtige Zeitpunkt für Konversation, und so lief ich weiter.
Ich lief nicht zu meinem Vater. Ich lief zu Margo.
Margo, deren Hass mir auf einmal so abscheulich erschien, so niederträchtig und mitleidlos. Margo, die von allem wusste. Margo sollte reden.
24
Ich rannte durch Straßen, unter deren Schneeschicht sich wagenradgroße Löcher in die Teerdecke gefressen hatten, entlang an sandfarbenen Einfamilienhäusern, von deren Dachrinnen Eiszapfen wie Dolche hingen. Ich lief und keuchte über Gehwege, die mit Asche gestreut waren, mit Sand, mit Salz. Eine Idylle? Nicht mehr für mich.
Schließlich erreichte ich Margos Haus. Durch die heruntergelassenen Jalousien in den Wohnzimmerfenstern fiel noch immer Licht. Sie war zu Hause.
Ich brauchte nur die Gartenpforte zu öffnen und an der Tür zu klingeln. Dennoch zögerte ich. Ich öffnete die Daunenjacke, fühlte den kalten Luftzug, tupfte mir Hals und Nacken trocken und ließ das Haus nicht aus den Augen.
Margo kannte die Wahrheit und hasste mich. Weshalb? Was hatte ich ihr getan? Was hatte Leo ihr getan? Warum hasste sie nicht die Frau, die ihren Sohn getötet hatte?
Ich atmete die kühle Morgenluft ein und lauschte meinem Pulsschlag. Er beruhigte sich, mein Geist nicht.
Ich sah auf die Uhr. Kurz vor zehn. Viel Zeit hatte ich nicht.
Entschlossen öffnete ich die Pforte und ging durch den schmalen Vorgarten. Die Büsche und Staudenreste hatten unter der Schneelast bizarre Figuren gebildet.
Ich ging die Treppe hoch und läutete an der Haustür.
Nichts geschah.
Ich klingelte noch einmal, dann klopfte ich an die Tür. Ich klopfte lauter.
Ich drehte mich um, ob jemand am Haus vorbeiging und mich beobachtete. Doch ich war allein.
Ich rief Margos Namen durch den Briefschlitz, presste mein Ohr gegen die Tür und lauschte – auf ein Knarren der Dielen vielleicht, auf das Klappen einer Tür, auf schlurfende Schritte.
Ich hatte Fragen, und ich brauchte Antworten. Jetzt und von ihr. Ich überlegte, was ich tun konnte.
Ich ging die Treppe hinunter und um das Haus herum. Das Badezimmerfenster in der oberen Etage stand einen Spalt breit offen. Ich blieb stehen und rief nach Margo, einmal, zweimal, dreimal, mit jedem Mal beherzter. Irgendwo in der Nähe klapperte eine Haustür. Ich lief um die Ecke auf den Hof. Auch die Jalousie am Küchenfenster war noch heruntergelassen. Ich hämmerte an die Küchentür und wartete wieder. Eine unbestimmte Unruhe grummelte in meinem Magen.
Ich drückte die Klinke herunter, doch die Tür war verschlossen. Ratlos überlegte ich, wie ich ins Haus gelangen konnte.
»Das ist ein ziemlicher Lärm so früh am Morgen!«
Ich hatte niemanden kommen gehört und fuhr erschrocken herum. Vor mir stand ein bulliger Kerl mit einem breiten Gesicht, das eine Rasur vertragen hätte. Sein Haar war dunkelbraun und ziemlich dünn, obwohl er kaum älter als 40 sein konnte. Er trug eine alte Jacke mit abgestoßenen Kragenecken, eine verwaschene Jeans und sah aus, als hätte er noch vor wenigen Stunden in
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