Bruderschatten
stützten mich und hielten mich aufrecht.
Vor uns tauchte die orangefarbene Rückseite eines Räumfahrzeugs auf, das in einer breiten Bahn Salz streute. Kortner ging vom Gas, hielt Abstand und sagte: »Ist eine lange Geschichte.«
Ich musterte ihn von der Seite. Noch immer war er ein stämmiger, kräftiger Mann, den man sich nicht zum Feind wünschte. Doch etwas stimmte nicht. Ich sah es an seiner Haltung. Sein Oberkörper war leicht nach vorn geneigt, seine Schultern fielen müde herab, während er das Lenkrad mit beiden Händen so fest umklammerte wie ein Schiffbrüchiger eine Holzplanke im Ozean und angespannt auf die Straße starrte.
Kortner hatte schon bei der Kripo gearbeitet, als ich noch zur Schule ging. Gemeinsam mit ein paar Kollegen hatte er Leo und Konrad verhaftet, als es genug Beweise dafür gab, dass die Jungen in Datschen einbrachen und alles stahlen, was sich ihnen bot. Damals hatte er es noch gut mit uns gemeint und meinen Eltern Mut zugesprochen, nachdem Leo verhaftet worden war. Bei guter Führung, hatte Kortner gesagt, wäre Leo in sechs Monaten wieder zu Hause, und wahrscheinlich würde er trotz der Jugendstrafe studieren können. Es gäbe bestimmt Wege, das zu arrangieren.
Doch weder Leo noch Konrad durften studieren.
Nach dem Zusammenbruch der DDR gab es – wie in anderen Behörden auch – eine Aufräumwelle bei der Polizei, und etliche Beamte wurden entlassen. Kortner gehörte zu den wenigen, die als politisch unbelastet galten und sich frühzeitig für einen Reformkurs ausgesprochen hatten. Kurz vor dem Ende der DDR hatte ihm das ein Parteiverfahren und eine vorübergehende Versetzung in den Innendienst eingebracht. Sie wurde erst aufgehoben, als man im Zusammenhang mit zwei neuerlichen Kindermorden in Solthaven im Frühsommer 1989 jeden Mann brauchte und eine Sonderkommission bildete. Kortner übernahm die Leitung, und es war vor allem ihm zu verdanken, dass Koslowski geschnappt wurde. Inzwischen musste er kurz vor der Rente stehen.
»Wohin fahren wir?«, fragte ich.
Kortner ignorierte meine Frage. Er starrte auf die Straße. Das Räumfahrzeug blinkte und bog rechts in eine Nebenstraße ein.
»Darf ich Sie etwas fragen?«, versuchte ich es nach einer Weile erneut.
Er warf mir einen skeptischen Blick zu.
»Ich möchte wissen«, fragte ich, »warum Sie damals zuerst annahmen, dass Leo Claudia umgebracht hat?«
Etwas erschütterte ihn. Ich konnte es von der Seite sehen. Sein Gesicht wirkte, als würden es winzige seismische Wellen durchrütteln.
»Meine Güte! Wir haben alle verdächtigt, die sie kannten und kein Alibi hatten.«
»Und dann hat Koslowski den Mord an Claudia gestanden. Wie schön für Sie.«
»Was soll das? Fragen Sie doch einfach, was Sie wissen wollen.«
»Ich kenne die gerichtsrelevanten Beweise nicht, die Koslowski überführt haben, Claudia umgebracht zu haben. Aber ich habe vorhin die Nachrichten gehört.«
»Sie können das alles in Koslowskis Ordner nachlesen. Den hat er Ihnen ja gegeben.«
»Das beweist nichts. Und der Prozess …«, begann ich, doch er unterbrach mich.
»… Koslowski hat gestanden. Belassen wir es dabei.«
»Nein«, sagte ich. »So einfach kommen Sie aus der Nummer nicht raus. Koslowski hat Claudia nicht umgebracht.«
»Das wird niemand mehr beweisen können, und in Ihrem eigenen Interesse sollten Sie es besser gar nicht erst versuchen. Der Mann ist tot«, sagte er eher müde als aggressiv.
Ich antwortete nicht. Stattdessen wiederholte ich meine Frage, wohin wir führen, denn wir waren inzwischen stadtauswärts unterwegs. Auch er antwortete nicht, und so sah ich schweigend aus dem Fenster.
In Kürze würden wir den Friedhofseingang passieren. Danach käme das Sportstadion, mit dem Fußballplatz und der roten Aschebahn auf der einen Seite und der Springreiteranlage auf der anderen, die noch aus DDR-Zeiten stammte. Ein neues Gewerbegebiet schloss sich an mit ein paar Baufirmen, die in modernen Betonklötzen residierten, mit einem Kücheneinrichtungsladen in einem langgestreckten Bungalow und mit der ehemaligen Reithalle, einer windzerfurchten Holzkonstruktion aus sozialistischen Zeiten, in der jeden Donnerstag ein Bauernmarkt stattfand. Es war ein kleines Gewerbegebiet, und kurz darauf verließ man die Stadt.
Kortner fuhr auf den Friedhofsparkplatz. Auch an diesem Morgen waren wir die Einzigen.
»Lassen Sie uns ein paar Meter laufen.« Er stieg aus und knallte die Tür zu.
»Schließen Sie nicht ab?«, rief ich und war noch
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