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Bruderschatten

Bruderschatten

Titel: Bruderschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
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Claudia und Leo waren seit vier Jahren ein Paar. Soweit ich es beurteilen konnte, waren sie glücklich. Möglich, dass Claudia nicht mehr so oft bei uns zu Hause war wie früher, zumal Leo weniger Zeit hatte. Er hatte einen Aushilfsjob bei der Solthavener Kreiszeitung gefunden und hockte abendelang in der Redaktion. Bevor er mit 16 verhaftet wurde, hatte er davon geträumt, Journalist zu werden. Er wollte als Korrespondent die Welt bereisen. Das war sein Traum gewesen. Und ich hatte davon geträumt, ihn als Journalistin zu begleiten.
    Kortner hatten meine Antworten nie gereicht. Doch andere hatte ich nicht anzubieten.
    Mein Studium in Leipzig begann in der ersten Septemberwoche, und es wurde zu meiner privaten Fluchtstätte. Nachdem Lena mich aus meiner Lethargie gerissen hatte, stürzte ich mich in Seminare und Vorlesungen, bereit, meinen Dämonen die Stirn zu bieten und mich nicht unterkriegen zu lassen. Ich hatte ein klares Ziel vor Augen: Ich wollte keine beliebige Journalistin werden, die über Kleingartenvereine, die neueste Mode oder Sportereignisse berichtete. Ich wollte Gerichtsreporterin werden. Ich würde das Wesen des Verbrechens in seiner ganzen Monstrosität erkennen. Ich würde jedes Motiv bis in die feinsten Verästelungen hinein verstehen lernen, und so würde ich eines Tages auch verstehen, warum mein Bruder den Finger am Abzug hatte. Ich glaubte immer noch an einen Unfall. Doch weshalb hatte er das Gewehr in den Händen? Weshalb hatte er abgedrückt? Was hatte dieser Tod, den er verschuldet hatte, in ihm angerichtet?
    Ich verbrachte Jahre meines Lebens in Gerichtssälen. Ich studierte sowohl die kleinen Gauner als auch die schweren Jungs mit Vorstrafenregistern so umfangreich wie Telefonbücher. Ich erlebte Vergewaltiger und Amokläufer, Väter, die ihre Töchter jahrelang missbrauchten, kriminelle Banden aus Osteuropa oder Jugendliche, die ihre Opfer erst zusammenschlugen und sie dann zu Tode trampelten. Meine Arbeit gewährte mir einen Einblick in das Wesen dieser Menschen, und ich gewann eine Vorstellung von ihrem unbedingten Verlangen nach Liebe und ihrem unbedingten Verlangen nach Zerstörung.
    Das Wesen des Verbrechens jedoch hatte ich nicht erkannt, und vielleicht gab es das auch nicht.
    Ich stand noch immer vor Margos Haus. Mit ihr zu reden wäre sinnlos. Ich machte kehrt und begab mich auf den Heimweg.

22
    Ich war schon auf der Höhe unseres Hauses, als mein Handy klingelte. So früh konnte das nur Alex sein. Er würde sich entschuldigen und mir den Himmel auf Erden versprechen. Ich würde ihm verzeihen und nach Hamburg in seine Arme eilen. Erwartungsvoll lächelte ich, als ich das Handy aus der Jackentasche zog.
    »Unbekannte Rufnummer« las ich, und mein Lächeln erlosch.
    »Lambert«, sagte ich kühl.
    »Kortner hier, wir sind für zehn Uhr verabredet.«
    »Es ist erst neun«, erwiderte ich und beschränkte mich auf einen meiner Standardsätze für Situationen, die mich irritierten: »Was kann ich für Sie tun?«
    »Ich bin gleich bei Ihnen.«
    Hinter mir hörte ich ein Auto. Ich drehte mich um. Es war der braune, dreckverkrustete Mercedes, der vor Laurens Haus geparkt und den ich schon am Vortag gesehen hatte. Kortner bremste neben mir, und der Wagen kam auf der eisbedeckten Straße schlitternd zum Stehen. Er beugte sich zur Seite und öffnete die Beifahrertür, die laut quietschte.
    Ich drückte das Gespräch weg und stieg über den Schnee am Straßenrand und beugte mich zum Auto.
    »Steigen Sie schon ein«, sagte Felix Kortner und traktierte die Gangschaltung. Ich hatte gerade noch Zeit, mich auf den Beifahrersitz zu setzen und die Tür zuzuziehen. Kortner gab Gas, und ich suchte vergeblich nach einem Sicherheitsgurt. Er fuhr durch ein Schlagloch, dann durch ein zweites. Ich klammerte mich am Armaturenbrett fest und hüpfte auf der durchgesessenen Federung des Sitzes auf und nieder.
    »Der Gurt ist kaputt«, beschied er. »Den neuen mussten sie in der Werkstatt erst bestellen. Da kam ich gestern nämlich her, als ich Sie auf der Straße sah.«
    Er grinste mich von der Seite an. Das Grinsen saß verrutscht in seinem Gesicht, als würde es sich unwohl fühlen. Tatsächlich verschwand es so schnell, wie es gekommen war.
    »Sie also waren das gestern.« Ich hielt mich weiter am Armaturenbrett fest, falls Kortner für die Straßenverhältnisse wieder zu hastig bremste.
    »Es war nur ein Zufall.«
    Die Straße machte eine scharfe Kurve.
    »Worüber wollen Sie mit mir reden?« Meine Hände

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