Bruderschatten
in Kiesers Schuppen heimlich knutschten und rauchten. Ich war gerade zehn geworden, und ich hatte keine Vorstellung, was schlimmer war, dass sie rauchten oder sich küssten. Jedenfalls verpetzte ich sie nicht und bekam dafür in den nächsten vier Wochen von meinem Bruder alles, was ich mir wünschte: ein neues »Atze«-Heft, einen dreifarbigen Lutscher – grün-weiß-rot –, einmal sogar drei Bananen, obwohl es die damals gar nicht gab. Offiziell. Woher er sie inoffiziell hatte, habe ich nie erfahren.
Rita hatte in der Schule keinen guten Ruf und war mehrmals versetzungsgefährdet. Später jedoch machte sie eine Ausbildung zur Frisörin und eröffnete dann ihren eigenen Frisiersalon in der Stadt, in dem meine Mutter Stammkundin gewesen war und wo man sich Wochen vorher anmelden musste, um einen Termin zu bekommen. Sie war seit 16 Jahren verheiratet, was auch für eine Kleinstadt beachtlich war, denn ein Drittel aller Ehen endeten auch hier nicht durch den Tod, sondern vor dem Scheidungsrichter.
Am Bahnübergang, der nur für Fußgänger und Fahrradfahrer gedacht war, bog ich links in eine schmale kopfsteingepflasterte Straße ab. Die Häuser und Grundstücke waren hier bescheidener und kleiner als in der Platanenallee, und Autos parkten dicht an dicht vor den Häusern, die Räder halb vergraben im aufgetürmten Schnee am Straßenrand. In dieser Straße wohnte Lauren. Vor ihrem Haus stand ein Polizeiwagen, gleich dahinter ein rostbrauner Mercedes. Vielleicht war es der, den ich bei meiner Ankunft in Solthaven schon gesehen hatte.
An der Ecke wohnte Charles’ Mutter Margo in einem Haus, in dem ich während unserer Schulzeit so oft ein und aus gegangen war. Es war ein zweistöckiges Bürgerhaus aus den Anfängen des vergangenen Jahrhunderts mit einer grünen Eingangstür und einem kleinen gemauerten Balkon. Auf der Mauer stand eine steinerne Putte, ein Füllhorn über der Schulter tragend. Sie thronte wie ein Wächter über dem Vorgarten, der im Sommer eine schwelgende Blütenpracht hervorbrachte. Durch die Lamellen der Jalousien schimmerte schwaches Licht aus dem Wohnzimmer, und ich überlegte, ob es Sinn machte, noch einmal mit ihr zu reden.
Ich begriff ihren Hass nicht, den sie mir auf dem Friedhof entgegengeschleudert hatte. Wir beide hatten den Menschen verloren, den wir über alles liebten, und wir beide mussten lernen, mit dem Verlust umzugehen.
Über viele Jahre dachte ich, dass ich mich nie davon erholen würde. Aber ich hatte mich erholt.
Gerettet jedoch hatte mich Max. Ohne seine bedingungslose Liebe und ohne sein unverbrüchliches Vertrauen in meine Liebe hätte ich wohl nie verstanden, dass es Schicksalsschläge gab, die nicht danach fragten, ob man gut war oder schlecht. Sie geschahen ohne Grund, und das Einzige, was man tun konnte, war zu überleben, sich nicht entmutigen zu lassen und nach vorn zu schauen.
Margo hatte niemand gerettet. Sie würde sich nie von dem Verlust erholen, und keiner wusste das besser als ich.
Das letzte Mal hatte ich Margo ein paar Tage nach Charles’ Beerdigung gesehen. Sie saß bei meiner Mutter in der Küche, als ich von einer meiner ziellosen Wanderungen zurückkam, die ich in jenen Tagen unternahm.
Meine Mutter und Margo saßen nah beieinander und unterhielten sich leise. Als ich hereinkam, fuhren sie auseinander, als hätte ich sie bei etwas Ungehörigem ertappt. Beide sahen mich aus geröteten Augen an, und Margo schniefte laut. Verlegen und ratlos stand ich in der Küchentür, blickte auf die verwirrt aussehenden Frauen und fragte mich, ob ich das, was mein Bruder uns angetan hatte, jemals verstehen würde.
Meine Mutter wedelte mit der Hand, ich sollte gehen.
Ich war ein Störenfried. Wieder einmal.
Ich drehte mich auf dem Absatz um und rannte die Treppe hoch, immer eine Stufe überspringend, stürzte in mein Zimmer, knallte die Tür hinter mir ins Schloss, warf mich aufs Bett, drehte die Musik laut auf und starrte stundenlang an die Decke. Erst zum Abendessen ging ich wieder hinunter.
Meine Mutter und ich sprachen nie über diesen Nachmittag, und obwohl Margo nur eine Straße weiter wohnte, war ich ihr seither nie wieder begegnet.
Felix Kortner hatte mich in jenem Sommer 1989 gleich mehrmals vernommen in einem stickigen Raum, der nach Süden ging und den die unbarmherzige Augustsonne mittags zum Glühen brachte. Immer wieder befragte er mich zu Leo, zu Leos Beziehung mit Claudia, zu Charles, zu meinen Eltern, zu mir. Doch was sollte ich offenbaren?
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