Bruderschatten
junge Frau ermordet wurde.«
»Und?«
»Sie verstehen nicht«, sagte er. »Die junge Frau war Christas Enkelin. Eine von den zur Adoption freigegebenen Zwillingen. Sie erinnern sich doch, oder?«
»Wann wurde sie ermordet?«, fragte ich erschüttert.
»Gestern. Wir dachten erst zwischen zwölf und eins, aber es war wohl etwas später.«
Kortner sprach weiter, und dann traf mich der zweite Schock. »Jan, Laurens Sohn, spricht nicht, aber wir vermuten, dass er Zeuge des Mordes war.«
Deshalb hatte Kortners Auto vor Laurens Haus gestanden. Wahrscheinlich war die Polizei auch jetzt noch bei ihr oder brachte sie und Jan zum Revier, zeigte ihm Fotos von Verbrechern und hoffte, er würde den Täter wiedererkennen.
»Ein zehnjähriger Junge«, entfuhr es mir.
Er ging nicht darauf ein. »Ich wollte etwas anderes mit Ihnen besprechen«, sagte er. »Etwas Persönliches.«
Ich beschloss, auf der Hut zu sein, was auch immer in den nächsten Minuten passieren würde. Ich war Journalistin. Unter normalen Umständen implizierte das ein paar Qualitäten, auf die ich mich verlassen konnte, wenn eine Situation außer Kontrolle geriet. Objektivität, Nüchternheit, Sachlichkeit, Gelassenheit.
Mit dem, was dann folgte, hatte ich nicht gerechnet.
»Ihr Bruder hat Charles nicht umgebracht.«
Ein Satz. Einfach so. Er brandete in mich hinein, beladen mit zwei Jahrzehnten Schmerz, Trauer, Wut, Entsetzen. Ziellos taumelte er durch mich hindurch, ziellos glitten meine Augen über die Gräberreihe.
»Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe?«
»Leo war nicht Charles’ Mörder.«
Wie oft hatte ich mir vorgestellt, diesen Satz allen ins Gesicht zu schleudern, die meinen Bruder verdammt, meine Eltern gehasst und mich ignoriert hatten. Fünf Wörter. Mehr war nicht nötig, um die Ungerechtigkeiten vom Tisch zu wischen, die man meinem Bruder angetan hatte. Was für ein Triumph könnte dieser Satz für meine Familie sein. Es knallten jedoch keine Sektkorken.
Vielmehr wurde mir auch die ganze abscheuliche Bedeutung dieser fünf Wörter bewusst. Kortner hatte es gewusst. Und nicht nur das. Es gab Beweise. Es hatte sie immer gegeben.
»Weshalb behaupten Sie so etwas?«, fragte ich schließlich.
»Weil es die Wahrheit ist.«
»Auf einmal, einfach so, kennen Sie die Wahrheit?«
Nach zwanzig Jahren. Die Depressionen meiner Mutter? Überflüssig. Die Trauer meines Vaters? Nicht der Rede wert. Die Anfeindungen der Nachbarn? Schwamm drüber.
»Warum haben Sie es meiner Mutter nicht gesagt? Vielleicht hätte es ihr geholfen.«
»Ihre Mutter wusste es.«
Ich reagierte reflexartig. Der Reflex gehorchte reiner Abwehr. »Oh, dann hat wohl seine Schuldlosigkeit zu ihren Depressionen geführt.«
»Werden Sie nicht zynisch«, erwiderte er.
Ich sah ihn ratlos an. Sachlich bleiben, objektiv sein.
Objektivität beruht auf Fakten. Ich brauchte welche. Jetzt.
Zahlreiche Fragen kreisten in meinem Kopf. Ich hatte keine Zeit, sie nach Prioritäten zu ordnen. Ich fragte das Nächstliegende.
»Und wer war es, wenn nicht Leo?«
Er zögerte.
»Wer war es?«, drängte ich ihn.
Er zögerte erneut.
Falsche Taktik.
Ich war doch ein Profi, ein Interview-Urgestein. Ich hatte in den letzten 15 Jahren mehr Interviews geführt, als das Jahr Tage hat. Ich wusste doch, wie es ging.
Dranbleiben. Das Gespräch in Gang halten. Er wollte reden. Deshalb waren wir hier. Nächste Frage.
»Weshalb erzählen Sie es mir jetzt?«
»Ich gehe in ein paar Wochen in Pension, und mein Nachfolger will nachher mit Ihnen über Leo sprechen.«
»Und warum?«
Er antwortete nicht.
Ich sah ihn von der Seite an. Er stand so reglos, als sei er festgefroren.
»Wir ermitteln zusammen. Es geht um die Tote vor vier Monaten und um die von gestern. Sie waren Zwillingsschwestern«, sagte er schließlich.
»Und was will er von mir?«
»Ihr Bruder ist für ihn der Hauptverdächtige.«
»Leo mal wieder.«
Kortner schwieg wieder und starrte geradeaus. Leo, der mich angerufen haben sollte, um mich am Grab meiner Mutter zu treffen?
»Es gibt ernstzunehmende Hinweise, dass er wieder da ist.«
»Sind wir deshalb hier?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Kortner. »Ich wollte Ihnen sagen, dass Ihre Mutter Tag für Tag hierherkam, weil sie auf Charles geschossen hat. Es war ihre Form der Buße.«
Ich lauschte den Sätzen hinterher. Sätze, die wie vagabundierende Meteoriten in meine Seele einschlugen und tiefe Krater hinterließen.
Auf Distanz bleiben. Nicht persönlich involvieren
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