Bruderschatten
lassen. Gefühle unter Kontrolle behalten. Nachhaken.
Irgendwo neben uns brach ein Kaninchen aus dem Unterholz, hoppelte über die verschneiten Gräber und verschwand hinter der nächsten Hecke. Ich starrte auf seine Spuren im Schnee, während sich meine Gedanken überschlugen und ich keinen zu fassen bekam.
Ich war betroffen, und ich war involviert. Ich war Leos Schwester und Eddies Tochter und in dem Moment nichts anderes.
»Meine Mutter hat Charles erschossen«, wiederholte ich hilflos.
»Ganz recht.«
Mein Körper rebellierte. Ein Bulldozer wütete in mir und riss alles ein. Jeden einzelnen Schutzwall, den ich über die Jahre errichtet hatte, um nicht daran zugrunde zu gehen, dass mein Bruder ein Mörder sein sollte, der meine große Liebe mit dem Gewehr meiner Mutter in der Garage meiner Eltern hingerichtet hatte. Heimtückisch von hinten. So hatte man es mir erzählt.
Das Zittern begann in den Händen, kroch die Arme hoch, ergriff den Brustkorb, durchflog den Bauch, raste durch die Beine.
»Ihr Bruder hat nicht auf Charles geschossen«, wiederholte er, während ich das Zittern nicht mehr kontrollieren konnte und die Beine unter mir nachgaben.
Felix Kortner hielt mich am Arm fest, doch er konnte mich nicht halten, und so fiel ich vor seinen Füßen in den Schnee.
»Haben Sie das verstanden?« Er reichte mir eine Hand.
»Sie Schwein! Erst war es Leo, und jetzt soll meine Mutter Charles erschossen haben?«
Atemlos stieß ich es hervor, während mir Dutzende Fragen durch den Kopf schossen und Dutzende widersprüchliche Gefühle mich überrollten.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen hoch, und dann gehen wir zurück.«
»Fassen Sie mich nicht an.« Ich legte den Kopf auf die Beine und atmete den Geruch meiner Jeans ein, während feuchte Kühle durch den Stoff drang.
»Sie behaupten also, meine Mutter hat Charles getötet?«
Er reagierte nicht.
»Warum sollte meine Mutter so etwas getan haben? Welchen Grund hätte sie haben sollen? Woher kommt Ihr Sinneswandel? Und warum jetzt? Leo hat Charles nicht umgebracht. Gut. Aber Claudia hat er umgebracht, nicht wahr? Koslowski war es nicht. Sie wissen das, und ich weiß es auch. Ein Mörder ist er für Sie also so oder so. Nur haben Sie jetzt auch noch meine Mutter zu einer Mörderin gemacht. Wissen Sie was, Kortner? Sie widern mich an.«
Er schaute zu mir herunter.
»Hören Sie, Julie. Wir haben jetzt keine Zeit mehr. Leo ist nicht Charles’ Mörder, doch wird auch das niemals mehr jemand beweisen können.«
Die Welt verschwamm und zog sich von mir zurück.
Er reichte mir nochmals seine Hand. Ich schob mich zurück. Weg von ihm, weg von dem, was er gesagt hatte.
»Weshalb erzählen Sie mir diesen ganzen Mist? Wieso lassen Sie mich nicht einfach in Ruhe?«
Er sah mich fast mitleidig an.
»Wenn Leo Sie kontaktiert, sagen Sie ihm, er soll verschwinden. Er darf hier nie wieder auftauchen. Haben Sie das verstanden?«
23
Jahrelang hatte ich mich gefragt, wie Leos Flucht gelungen war. Wohin er geflohen war, was er gerade tat, wo er lebte, ob er glücklich war. Beendete er sein Studium? Lebte er in einem Haus mit Garten? Hatte er eine Frau und Kinder? Dachte er manchmal an mich und unsere Eltern oder an Charles und Margo? Lag er nachts wach, weil seine Schuldgefühle ihn zermürbten und er mit seinem Leben haderte? Ahnte er, was er uns allen mit diesem einen Schuss angetan hatte?
Es gab damals eine Fahndung nach Leo, und obgleich die meisten Kriminellen es nur in die Lokalzeitungen schafften, landete Leo im überregionalen »Neuen Deutschland« und in der »Aktuellen Kamera«, der einzigen Nachrichtensendung der DDR. Natürlich gab es daraufhin zig Hinweise. Noch Jahre später meldete sich der eine oder andere und behauptete, er hätte Leo auf Amrum, auf den böhmischen Schären oder in Berlin, ja, selbst auf Mallorca und auf den Malediven gesehen. Es gab etliche Spinner unter ihnen, die sich lediglich wichtig machen wollten. Dennoch überprüfte die Polizei jede Spur und ging jedem Hinweis nach. Doch Leo blieb verschwunden.
Und jetzt das: Zwanzig Jahre lang Lug und Trug.
Kortner hatte gelogen. Die Wut trommelte in meinen Ohren.
Margo hatte gelogen. Die Wut rauschte in meinem Blut.
Meine Mutter hatte mich belogen. Die Wut fraß sich in meine Seele.
Wenn Zorn heilig war, dann wurde ich gerade eine Heilige.
Wusste es mein Vater? Vermutlich.
Weshalb hatte niemand mit mir gesprochen? Weshalb hatten alle geschwiegen? War ich keiner Erklärung würdig? Keines
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