Brückenorakel Bd 2 - Weltenwanderer (German Edition)
ebenso zusammen wie die Touristen, während die Vögel wieder unter lautem Gekreische aufflogen. Im nächsten Moment bemerkte Avi das Tier.
Er konnte nur erkennen, dass es die Größe eines kleinen Hundes hatte, denn seine Tarnung war vollkommen, weshalb die Form seines Körpers kaum zu bestimmen war. Auf schattenhaften Umrissen – vermutlich Beine – huschte es schnell davon und veränderte dabei je nach Umgebung Farbe und Beschaffenheit. Als es an einer Stechpalmenhecke vorbeilief, wurde es grün und stachelig. Vor der niedrigen Backsteinmauer rings um das Gelände nahm es einen ziegelroten Farbton an und ahmte sogar die Linien der Fugen nach.
»Was ist das?«, fragte Hannah.
»Keine Ahnung«, erwiderte Avi. »Aber ich kann mir schon denken, woher es kommt.«
Inzwischen stand das Geschöpf oben auf der Mauer und wurde im Nu himmelblau. Da es nun ungeschützt war, wirkte die Tarnung nicht mehr so gut, so dass es an eine gläserne Eidechse erinnerte. Die Enden seiner Gliedmaßen flirrten wie eine Fata Morgana. Offenbar spürte es, dass alle Blicke auf ihm ruhten, denn es stieß ein dampfkesselähnliches Pfeifen aus und sprang senkrecht in die Höhe. Die Schaulustigen schnappten nach Luft.
Dann breitete das Tier schimmernde Fledermausflügel aus und flog in einen nahe gelegenen Kastanienbaum. Im Vogelhaus gerieten die Vögel außer Rand und Band. Sobald das Tier in der Baumkrone gelandet war, war es nicht mehr zu erkennen.
Der Mann mit dem Gewehr pirschte sich an den Baum heran, während einer seiner Kollegen die Menschen vom Zaun wegscheuchen wollte. Doch seine Bemühungen führten nur dazu, dass sie noch dichter heranrückten.
Der Zoo-Mitarbeiter zielte sorgfältig und gab kurz nacheinander drei Schüsse ab. Das Geräusch war eher ein Ploppen als ein Knall, und Avi wurde klar, dass der Mann keine Kugeln, sondern Betäubungspfeile abfeuerte.
Die ersten beiden Pfeile landeten im Laubwerk, der dritte traf mit einem leisen, dumpfen Geräusch einen unsichtbaren Körper. Das Tier kreischte wieder schrill auf und erhob sich in die Luft. Beinahe durchsichtig und wie ein lebendiges Prisma verharrte es in der Luft, war aber wegen des Pfeils in seiner Flanke leicht zu erkennen. Dann flog es, verfolgt von den Wärtern, in Richtung Kanal.
Einige Schaulustige jubelten.
»Lassen Sie es in Ruhe!«, rief Hannah. »Es hat Angst!«
»Komm«, sagte Avi und zog sie vom Zaun weg.
Sie rannten das kurze Stück bis zur Brücke, die über den Kanal führte. Als sie ankamen, schwebte das Geschöpf wie betrunken schwankend über dem Pfad. Plötzlich faltete es die Flügel zusammen und stürzte ins Wasser. Ein Platschen ertönte, und das Wasser unter der Brücke schlug heftige Wellen. Avi spähte über die Brüstung, konnte aber nichts entdecken.
Einige Touristen waren ihnen auf die Brücke gefolgt. Währenddessen marschierten die Zoo-Mitarbeiter zum Pfad, wo der Wärter mit dem Schmetterlingsnetz anfing, im Wasser herumzufischen. Seine Miene verriet bald, dass er zu demselben Schluss gekommen war wie Avi: Das Tier, was immer es auch gewesen sein mochte, war entwischt.
»Wo ist es?«, fragte er die Leute.
Mindestens sechs Personen zeigten in mindestens sechs verschiedene Richtungen.
Nachdem die Wärter sich rasch abgesprochen hatten, teilten sie sich auf, um das Ufer abzusuchen.
»Bestimmt stammt es aus dem Feenreich«, meinte Hannah. »So etwas gibt es hier nicht.«
Avi starrte ins Wasser. Zuerst die Schiffe und all die anderen seltsamen Ereignisse, dann Brucies Besuch letzte Nacht. Sosehr er sich auch auf sein neues Leben freute, die andere Seite schien ihn einfach nicht loslassen zu wollen.
Allmählich zerstreute sich die Menge. Die Wärter durchkämmten weiter, wenn auch mit wenig Diensteifer, die Umgebung des Flusses, und im Vogelhaus hielt wieder der Alltag Einzug.
Avi, Hannah und einige der Touristen blieben zurück.
»Es war verletzt«, stellte Hannah fest.
»Du konntest spüren, was in ihm vorging, oder?«, fragte Avi.
»Ein bisschen. Das arme Ding stand Todesängste aus. Kein Wunder, denn es ist nicht in seiner Welt. Es gehört nicht hierher.«
Avi war schon versucht zu fragen, ob sie ihn in demselben Licht sah, überlegte es sich aber anders, da er nicht sicher war, ob er die Antwort hören wollte.
Hannah schaute auf die Uhr. »Oh, schon so spät! Meine Fahrstunde. Ich muss los.«
»Ich warte noch eine Weile hier. Vielleicht tut sich ja etwas.«
»Gut.« Sie küsste ihn auf die Wange. »Ich liebe
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