Brückenorakel Bd 2 - Weltenwanderer (German Edition)
die Küste war steinig und seicht«, verkündete Roosevelt mit dröhnender Stimme. Dabei ruderte er mit seinen massigen Armen und erschütterte den Rollstuhl derart, dass Avi ihn schon im Wasser liegen sah. »Ein Tod, vor dem mir graut!«
»Also zitiert er immer noch den alten William«, meinte Avi mit einem Seitenblick auf Durin. Das Profil der Frau ähnelte so stark dem des Mannes, den er gekannt hatte, dass die beiden Bruder und Schwester hätten sein können.
Durin sah ihn an. Seine Züge waren streng, seine Augen auf unheimliche Weise vertraut. Nur der Anflug eines Lächelns spielte um seine schmalen Lippen. Nun, Durin hatte schon immer zur Ernsthaftigkeit geneigt.
»Manche Dinge ändern sich nie«, antwortete er.
»Du hast dich verändert.«
»Ich bin und bleibe dein Beschützer, Berater und Diener.« Inzwischen war das Lächeln einer feierlichen und aufrichtigen Miene gewichen, so arglos, dass Avi glaubte, durch die kühle Fassade des Wächters direkt in sein ihm treu ergebenes Herz schauen zu können.
Als er Durin umarmen wollte, erwiderte dieser die Geste nicht. Offenbar hatte er auch für Zuneigungsbekundungen nicht viel übrig.
»Schön, dich wiederzusehen«, sagte Avi und ließ die Arme sinken.
Kräftige Hände klopften ihm auf den Rücken. »Ich freue mich auch.«
»Denn im Wasser schwillt der Mensch an!«, rief Roosevelt. Durch sein Herumgezappel war der Rollstuhl nur noch tiefer im Schlamm des Teichgrunds eingesunken. »Und was wäre aus mir geworden, wenn ich angeschwollen wäre? Ein Berg von einer Mumie!«
»Wir sollten ihn da rausholen«, schlug Avi vor.
»Wenn das dein Wunsch ist, Avi, will ich dir nicht widersprechen.«
»Durin, sollte das gerade ein Scherz sein?«
»Ich bin ein Wächter. Scherzen liegt nicht in meinem Naturell.«
Avi fühlte sich so ausgelassen wie schon seit Monaten nicht mehr. Er war sich seiner inneren Anspannung gar nicht bewusst gewesen. Durins Gegenwart vermittelte ihm Sicherheit und Geborgenheit und …
… und er erinnert mich an zu Hause.
»Verrätst du mir, wann du dich in eine Frau verwandelt hast?«, fragte er. »Und wie? Ach, und vergiss das Warum nicht.«
»Die Sache ist ganz einfach«, erwiderte Durin. »Wie du ja weißt, sind Wächter im Feenreich Statuen oder besser ausgedrückt Petriviten , also Wesen, die aus lebendigem Stein bestehen. Lediglich in der Welt der Sterblichen wird ein Wächter ein Mann aus Fleisch und Blut. Beziehungsweise, wie in diesem Fall, eine Frau.«
»Entscheidest du selbst, in was du dich verwandeln möchtest?«
»Man erfährt es erst nach der Ankunft. Wenn ich in die Welt der Sterblichen zurückkehre, nehme ich jedes Mal eine andere Gestalt an. Manchmal bin ich ein Mann, manchmal eine Frau.«
»Wie beim Würfeln?«
»Eine Münze zu werfen, würde es besser treffen.«
Aus dem Teich ertönte lautstarkes Gebrüll. »Mein Leben ist bedroht! Seht, der Leviathan naht!«
Avi stellte fest, dass sich vom anderen Ufer her eine neugierige Gans näherte.
»Was meinst du?«, sagte er. »Retten wir ihn oder nicht?«
Wieder spielte ein Lächeln um Durins Lippen. »Das Leben steckt voller schwieriger Entscheidungen, Avi.«
Zum Glück war der Park menschenleer. Ansonsten hätten sie, wie Avi dachte, wahrscheinlich einen ebenso großen Menschenauflauf verursacht wie das seltsame Geschöpf vor dem Vogelhaus – ein junger Mann mit asiatischem Aussehen, dessen Augenfarbe sich nach Lust und Laune änderte, und eine stämmige Frau, die eine pensionierte Lehrerin hätte sein können, zerrten gemeinsam einen Koloss im Rollstuhl aus einem Teich. Erfreulicherweise war Durin stärker, als es den Anschein hatte, so dass Roosevelts Bergung nur eine knappe Minute dauerte. Kurz darauf saßen Avi und Durin, Roosevelt neben sich, auf einer abgelegenen Bank im Schatten einer Eiche.
»Ich kann nicht ergründen«, meinte Roosevelt und wischte mit seiner Krawatte den Schlamm von den Rädern, »ob unsere Begegnung ein Fluch oder ein Segen ist.«
»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, entgegnete Avi.
»Das heißt«, fuhr Roosevelt mit einem finsteren Blick auf Durin fort, »dass wir in geheimer Mission unterwegs sind. Die Sterblichen dürfen uns unter gar keinen Umständen bemerken.«
Avi starrte ihn entgeistert an. Der Mann wog mindestens einhundertachtzig Kilo, war in blauen Samt und scharlachrote Seide gekleidet, hatte ein Monokel mit goldenem Rand in seinem hervorquellenden Auge und ein bandagiertes Bein, das auf einem Gestell von der Größe
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