Brückenorakel Bd 2 - Weltenwanderer (German Edition)
reichte. Avi grinste. Er wusste, wozu Kabelkanäle wie dieser dienten.
»Hat jemand ein Messer dabei?«, erkundigte er sich.
Die beiden Wächter klopften ergebnislos ihre Taschen ab, bis Hannah zur allgemeinen Überraschung ein Taschenmesser mit verschiedenen Klingen zutage förderte.
»Man muss auf alles vorbereitet sein«, verkündete sie.
Als Avi die Plastikhülle des Kabelkanals aufschnitt, kamen zahlreiche Kabel von unterschiedlicher Farbe und Dicke zum Vorschein.
»Oh«, seufzte er. »Ich hatte gehofft, dass sie beschriftet sind.«
Roosevelt rollte näher heran und spähte in den Kabelkanal. Aus einer Tasche seiner Jacke zog er eine altmodische Taschenuhr. Nachdem er überprüft hatte, ob sie auch tickte, reichte er sie Avi.
»Was soll ich damit?«, wunderte der sich.
»Wir wollen es auf die sanfte Tour versuchen, Avi, mein Junge. Steck sie zwischen die Kabel.«
Avi drehte die Uhr hin und her. Auf der Rückseite war ein Name eingraviert, den er kannte: Fugit.
»Das ist keine gewöhnliche Uhr, richtig?«, fragte er.
»Fugit hat sie mir vor vielen Jahren geschenkt«, antwortete Roosevelt.
»In seiner Freizeit konstruiert Fugit Uhren«, erklärte Durin. »Viele seiner Uhrwerke nehmen seine Fähigkeiten an.«
»Heißt das, dass sie die Zeit beeinflussen können?«, wollte Avi wissen.
»Zwischen die Kabel damit, Junge!«, befahl Roosevelt. »Lass uns nicht herumtrödeln!«
Avi gehorchte und schob die Uhr tief in das Kabelgewirr, wo sie weiter friedlich vor sich hin tickte.
»Und jetzt verstell die Zeiger«, wies Roosevelt ihn an. »Vierundzwanzig Stunden nach dem Zeitbegriff der Sterblichen, wenn ich bitten darf.«
Avi griff zwischen die Kabel und klappte das Uhrglas auf. Die Zeiger standen auf zwölf Minuten nach sechs. Er drehte sie zweimal um dreihundertsechzig Grad, bis sie sich wieder in derselben Stellung befanden.
»Kannst du mir sagen, was ich da gerade getan habe?«, fragte er Roosevelt.
»Natürlich.« Der Wächter grinste breit. »Du hast mithilfe eines thaumatologischen Instruments eine vierundzwanzigstündige Verzögerung im Stromnetz dieser ehrwürdigen Anstalt herbeigeführt.«
»Auf Englisch bitte«, meinte Hannah.
Roosevelt warf ihr einen giftigen Blick zu. »Fugits magische Uhr stört das Stromnetz des Museums, insbesondere die Versorgungsleitungen der Überwachungskameras.«
Avi starrte auf die Uhr. »Heißt das, dass das Wachpersonal uns nicht sehen kann?«
»Das Wachpersonal wird genau das sehen, was es erwartet«, erwiderte Durin. »Nur dass es Bilder von morgen Abend sein werden und nicht von heute.«
»Die Zukunft also«, stellte Hannah fest. »Das ist ja wie ein Wunder.«
»Dennoch ist unsere Zeit zu kostbar, um sie zu vergeuden«, verkündete Roosevelt. »Also vorwärts!«
In Avi löste es ein mulmiges Gefühl aus, durch ein leeres Museum zu gehen. Bis auf das Licht der wenigen Notleuchten auf Bodenhöhe war es dunkel. Die Bilder wirkten im Dämmerschein wie verschwommene Schatten. Nur die Augen der por-trätierten Menschen stachen aus unerklärlichen Gründen hervor. Ihr Blick schien Avi von Saal zu Saal zu folgen.
Einmal mussten sie sich in der Finsternis verstecken, denn ein Wachmann kam an dem Saal vorbei, in dem sie sich gerade befanden, und leuchtete mit seiner Taschenlampe hinein. Das Klappern seiner Absätze war noch zu hören, als er schon längst verschwunden war. Deshalb wagten sie nicht, sich von der Stelle zu rühren, bis Hannah bemerkte, dass Pennie das Geräusch nachahmte.
»Pennie«, zischte sie. »Ruhe.« Das Pennapor verstummte, so dass sie weiter durch die unheimliche Stille schleichen konnten.
Endlich erreichten sie einen langen Raum mit Gewölbedecke. An der einen Wand hingen Bilder, die Seeschlachten darstellten, die andere war bis auf ein einziges Gemälde leer. Obwohl das Motiv wegen der Lichtverhältnisse kaum auszumachen war, verriet Avi ein plötzliches Kribbeln im Magen, dass sie am Ziel angelangt waren.
Nachdem sie sich vor dem Bild versammelt hatten, nahm Durin eine Öllampe von der Lehne des Rollstuhls und zündete sie an. Im anfänglichen Flackern der Flamme schien das Gemälde für einen Moment zu leben, bald jedoch brannte sie ruhig und stetig.
Das Porträt zeigte einen bärtigen Mann mit finsterer Miene, der einen gefältelten Kragen aus der Zeit von Königin Eli-zabeth trug und an einem Schreibtisch aus Mahagoni stand. Auf dem Tisch waren Seekarten und verschiedene Gerätschaften aus Messing zu sehen, die offenbar zum
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