Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
als »Fußboden« der Gesellschaft gesehen, auf dem alle stehen. Damit verbunden sei aber keine Deckenbegrenzung. Wir haben weiter für Beteiligungsgerechtigkeit zu sorgen, indem wir Menschen einen Zugang zum Arbeitsmarkt eröffnen und die Einstiegshürden nicht zu hoch werden lassen. Wir sorgen für Leistungsgerechtigkeit, indem wir den Menschen ihren Anteil am Wohlstandszuwachs sichern wollen – gerade diejenigen, die keine staatlichen Transfers bekommen, aber auch nicht Spitzenverdiener sind, haben das Gefühl, dass sie feststecken. Und wir müssen für Generationengerechtigkeit stehen, indem wir auf die nachhaltige Finanzierung der Sozialversicherungen und der öffentlichen Haushalte auch am Vorabend des demographischen Wandels achten. Man kann das in einem klugen Satz des britischen Vizepremiers Nick Clegg zusammenfassen, den er kürzlich in einer Rede geäußert hat. Er hat sinngemäß ausgeführt, Liberale müssten sich gegenwärtig bei jedem politischen Vorhaben fragen, ob es die Wirtschaft stärker und zugleich die Gesellschaft fairer mache. Zugleich – nicht danach oder irgendwann.
GENSCHER
Theodor Heuss, der erste Bundespräsident und ein großer Liberaler, hat nach seiner erstmaligen Wahl einen Satz aus den Sprüchen Salomons zitiert: »Gerechtigkeit erhöht ein Volk.«
Zu dieser Gerechtigkeit gehören gleiche Chancen, aber nicht das unwahrhaftige Versprechen gleicher Ergebnisse. Das schläfert auch den Leistungswillen ein. Wer seine Chancen aber nicht wahrnehmen kann, aus gesundheitlichen Gründen oder sonstigen nicht zu vertretenden Gründen, der bedarf der Hilfe der Gesellschaft.
LINDNER
Mir scheint, dass unter dem Begriff der »sozialen Gerechtigkeit« bedauerlicherweise jeder versteht, was er will oder fühlt. Friedrich August von Hayek sprach von einem »Wieselwort«, weil das Wiesel angeblich Eier so geschickt aussaugen kann, dass die inhaltsleere Schale unversehrt bleibt. Mit dem Schlagwort »sozialer Gerechtigkeit« kann heute fast jeder staatliche Eingriff in Wirtschaft und Gesellschaft rhetorisch gerechtfertigt werden, ohne dass nach konkreten Ergebnissen gefragt wird. Umso mehr müssen wir eine eigene, liberale Vorstellung von Gerechtigkeit zur Diskussion stellen. Für mich ist das die Vorstellung von Fairness, die wir aus dem Sport kennen. Echte Sportsleute haben unabhängig von der jeweiligen individuellen Leistung Respekt voreinander – und sie sind vor den Regeln ohnehin alle gleich.
Beim Sprintrennen haben alle Läufer die gleiche Chance – wir würden protestieren, wenn einer ohne Schuhe antreten müsste oder ein anderer bereits am Start fünf Meter Vorsprung erhielte. Andererseits würden wir uns genauso dagegen wehren, wenn kurz vor dem Ziel die Schnellsten warten müssten, damit alle zeitgleich einlaufen können. Fairness ist für mich also die Verbindung einer grundlegenden Gleichheit vor dem Gesetz mit Chancen- und Leistungsgerechtigkeit im Prozess. Was das im Einzelfall für die Gesellschaft bedeutet, darum muss natürlich stets und immer wieder neu gerungen werden.
GENSCHER
Die FDP hat diesen Fairnessbegriff, wie Sie ihn verwenden, immer vor Augen gehabt. Es kam aber in der Vergangenheit auch zu Fehleinschätzungen. Zu einer Verengung auf allein wirtschaftliche Themen. Wir haben das miteinander am Beispiel der Umweltpolitik besprochen.
LINDNER
Ja, mindestens in der Wahrnehmung hat es eine thematische Engführung gegeben. Wir haben uns immer stärker auf das Thema Steuerpolitik konzentriert. Dahinter stand ursprünglich die gesellschaftspolitische Absicht, eine neue Balance von Staat und Privat zu erreichen. Es war die Sorge um die Entwicklungsmöglichkeiten der Mittelschicht und all derer, die zu ihr aufschließen wollen. Es ging um die Menschen in der Mitte der Gesellschaft – also letztlich das Streben nach mehr Leistungsgerechtigkeit. Am Ende wurde das zur genial verdichteten Formel des »Mehr Netto vom Brutto«. Ein Versäumnis war, dass wir nach dem neuerlichen Regierungseintritt die Bandbreite nicht schneller wieder geöffnet haben. Andere Vorhaben der FDP standen im Schatten der Diskussion um die Steuerpolitik.
GENSCHER
Diese Verengung auf wirtschaftliche Themen wurde verschärft durch die Hinnahme, dass bestimmte ökonomische Theorien aus den USA , genauer gesagt aus Chicago, fälschlich als »neoliberal« bezeichnet wurden. Dort wurden eine radikale Marktorientierung und eine Geringschätzung der Rolle des Staates fast religiös gepredigt. Dabei
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