Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
müsse etwas dagegen unternommen werden, also hielt ich 1981 eine Rede beim Dreikönigstreffen der FDP in Stuttgart und verlangte nunmehr einen entschlossenen Schritt in Richtung auf die Europäische Union. Diese Europa-Rede wurde, das darf ich sagen, überall beachtet. Im Anschluss wollten die EG -Botschafter wissen, was daraus abgeleitet werden könne. Ich habe sie alle eingeladen und erklärt, was mich umtreibt. Daraus erwuchs die Überlegung, einen konkreten Vorschlag zur weiteren Integration Europas auszuarbeiten. Mit dem Gedanken wandte ich mich an Paris, wo damals eine Cohabitations-Regierung amtierte. Sie war nicht handlungsfähig. Frankreich fiel also aus. Dafür meldete sich Emilio Colombo, mein italienischer Kollege, und daraus entwickelte sich die Genscher-Colombo-Initiative für die Einheitliche Europäische Akte mit dem klar herausgestellten Ziel der Europäischen Union. So entsteht Wirklichkeit in der Außenpolitik, aus kleinen Ideen und Initiativen heraus. Also: Es geht. Immer noch.
LINDNER
Es erscheint dennoch als große Paradoxie, dass die Welt grenzenlos geworden ist, aber die Gesellschaften eher nach innen blicken.
GENSCHER
Das allerdings müssen wir selbstkritisch feststellen. Wir müssen unsere Gesellschaften drängen, dass sie sich mit den Problemen der Welt befassen und nicht provinziell denken! Das haben wir doch bei der amerikanischen Hypothekenkrise erlebt. Das betone ich auch in meinen Reden immer wieder: Wir haben eine Weltnachbarschaftsordnung. Früher war ein Nachbar der, mit dem man eine gemeinsame Grenze hatte. Heute ist jeder ein Nachbar, weil eine Währungskrise in einem entfernten Land sich auch auf uns auswirkt. Deshalb kann uns nicht mehr gleichgültig sein, was in Lateinamerika, in Nahost oder in Südostasien passiert. Gerade darum sollten wir in die neue Weltordnung die Ideen einbringen, die uns geholfen haben, den Westen zu einer Einheit zu entwickeln und den Kalten Krieg zu beenden, das heißt die uns geholfen haben, eine Verständigung mit einem politisch und gesellschaftlich völlig antagonistischem System zu erreichen. Nur so konnte die Spaltung Europas überwunden werden.
Lieber Herr Linder, ich sage Ihnen, allen Unkenrufen zum Trotz, die Fähigkeit der Europäer, aus der Geschichte zu lernen, vor allem aus den Irrwegen unserer Geschichte, hat uns nicht zu vollkommenen Menschen gemacht – die wird es nie geben –, aber eines wurde erreicht: Die Schicksalsgemeinschaft der Europäer, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist, ist einmalig in der Menschheitsgeschichte. Deshalb ist unser Europa heute die Zukunftswerkstatt für die ganze Welt. Die Frage, was wir aus den Erfahrungen der Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg für die Schaffung einer neuen Weltordnung lernen können, wird zu einer faszinierenden Diskussion weltweit führen und sie wird auch Ihre Generation faszinieren. Was wir heute gestalten, Herr Lindner, ist Ihre Zukunft. Sie werden in dieser Welt noch über 50 Jahre zu leben haben, wahrscheinlich weit mehr. Dann kriegen Sie vielleicht zwei Herzklappen … und noch mal 20 Jahre oben drauf.
»Brücken bauen, statt Gräben festigen« – die FDP
GENSCHER
Jetzt haben wir über Geschichte und über liberale Antworten auf die Probleme von Gegenwart und Zukunft gesprochen. Wir konnten uns beide vergewissern, dass einer liberalen Partei die Arbeit nicht ausgeht. Umso mehr müssen wir uns dann am Ende unserer Gespräche fragen, warum die FDP in den vergangenen Jahren den großen Zuspruch verloren hat, den sie bei der letzten Bundestagswahl erfahren hat. Und auch, wie das Vertrauen wieder wachsen kann, denn dass unsere Partei unverändert über Chancen verfügt, hat ja unter anderem die von Ihnen gewonnene Landtagswahl eindrücklich bewiesen.
LINDNER
Ich will damit beginnen zu sagen, was in meinen Augen
nicht
der Grund für den Vertrauensverlust ist. Die Menschen, die uns 2009 unterstützt haben, haben immer noch die gleiche Lebenseinstellung. Sie haben nach wie vor das Gefühl, dass die Mitte unseres Landes in den politischen Debatten oft zu kurz kommt. Sie suchen ihr Glück im tätigen Miteinander von Wirtschaft und Gesellschaft, ohne den Blick für das Ganze zu verlieren und anderen nicht ebenfalls Erfolg zu gönnen. Sie wollen in einer von allen als fair empfundenen Gesellschaft leben, ohne dass soziale Gerechtigkeit auf materielle Gleichheit verkürzt wird. Sie haben ein ökologisches und soziales Verantwortungsgefühl, von dem sie sich
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