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Brüder der Drachen

Brüder der Drachen

Titel: Brüder der Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Weissbecker
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nichts von den Menschen unterschieden, die der Sänger aus dem Norden kannte. Und doch – eine gewisse Heiterkeit und Sorglosigkeit war in ihrem Wesen verwurzelt, die man im Norden nur selten antraf. Geschah dies mit Menschen, die in einer Welt voller Wunder lebten? Oder hatte sich nur seine eigene Wahrnehmung in den letzten Jahren geändert? Lange hatte er sich nicht mehr mit den Sorgen anderer auseinandergesetzt, doch wenn ihn seine Erinnerung nicht trog, dann waren die Menschen des Nordens düsterer und verschlossener als die Leute, die er hier traf.
    An Nahrung herrschte kein Mangel, denn im See lebte eine große Zahl von Fischen, deren Fleisch köstlich schmeckte, auch wenn sie sonderbar anzuschauen waren. Das ganze Jahr hindurch fuhren die Männer der Stadt mit ihren Booten auf den See hinaus, um ihre Netze auszuwerfen, und meist kehrten sie mit einem guten Fang zurück. Im Norden und Osten, wo eine weite fruchtbare Ebene an den See angrenzte, lebten weitere Menschen. Sie bearbeiteten den Boden, und jedes Jahr brachten sie eine reiche Ernte nach Hause – genug, um mit den Bewohnern der Stadt Tauschhandel zu treiben. So gab es genügend Fisch, Mehl und Cranog-Wurzeln für alle.
    Die Katastrophe, die vor drei oder vier Jahrhunderten einen ganzen Kontinent verwüstet hatte, war an diesem Ort offenbar vorübergegangen. Oder wenn man den Geschichten glaubte, die abends in den Schankstuben erzählt wurden, dann war erst durch die Katastrophe dieser wunderbare Ort entstanden. Die Insel, die sich nun aus dem See heraushob, war einst ein Berg inmitten einer kargen Landschaft gewesen, bevor das Land sich gesenkt hatte und Wasser eingeströmt war. Die Ruine einer Burg oben auf dem Berg stammte noch aus der Zeit vor dem Untergang, aber niemand erinnerte sich mehr daran, wer sie erbaut und bewohnt hatte.
    Irgendwann, in einer Zeit, als die meisten Menschen vor der Katastrophe geflohen waren, weit in den Norden, war die Seestadt entstanden. Die ersten Häuser der Stadt waren auf festem Boden erbaut, rund um die Trümmer der alten Festung. Keiner konnte heute mehr sagen, warum die Menschen ihre Siedlung in das flache Wasser des Sees hinein erweitert hatten. Die neuen Häuser wurden auf Pfählen errichtet, die im felsigen Grund des einstigen Hügels verankert waren. Später waren Wege entstanden, die wie Brücken zwischen den Häusern hingen, sich auf schwimmende Plattformen stützten, oder auf eigenen Pfählen ruhten. Es war eine faszinierende Stadt. Manche der Häuser und Brücken schienen uralt, und das Holz, aus dem sie gebaut waren, war morsch und verwittert. Dazwischen gab es neue Häuser, die stolz und aufrecht standen, verziert mit kunstvollen Schnitzereien. Sogar einen Marktplatz hatten die Bewohner der Stadt erschaffen – eine große Fläche, bedeckt mit hölzernen Planken, die an drei Seiten von Häusern umstanden war. Eine Seite öffnete sich zum See hin, und es gab dort Stege, an denen Boote und Schiffe anlegen konnten.
    Eines der Gebäude, die den Marktplatz säumten, war besonders prächtig verziert, denn dort lebte der Fürst der Stadt. Die freie Fläche vor diesem Haus hatte der Sänger zu seinem liebsten Podium erkoren, und auch heute hatte er wieder seine Lieder gesungen, wie schon an den Tagen zuvor.
    Drei Nächte hatten er und Rhya nun in der Seestadt verbracht, und jeden Tag hatte er sich mittags und abends auf dem Marktplatz eingefunden, um die Anweisung des Engels zu befolgen. Beim ersten Mal hatte er nur sein eigenes Lied gesungen – das Lied, das der Engel gemeint haben musste, als er ihm den Auftrag gegeben hatte. Anfangs hatte man ihn staunend betrachtet, denn offenbar gab es in dieser Stadt sonst keine Sänger, die mit der Musik ihr Brot verdienten. Dies verwunderte Jandaldon, da er allenthalben den Gesang der Menschen hörte – sie sangen, wenn sie mit ihren Booten auf den See hinausfuhren, und sie sangen auch, wenn sie zurückkehrten, ihre Netze voll mit zappelnden Fischen. Doch auch wenn der Beruf des Barden hier unüblich schien, wussten die Bürger, was von ihnen erwartet wurde. Jeden Abend, wenn die Schar seiner Zuhörer sich zerstreute, ließen sie Gaben für den Sänger zurück – ein Stück Brot, einen Fisch, ein paar kleine Münzen.
    Und so hatte Jandaldon immer mehr alte Lieder aus seinem Gedächtnis hervorgekramt, die er schon seit vielen Jahren nicht mehr gesungen hatte. Von Tag zu Tag waren mehr Leute gekommen, um seinen Liedern zu lauschen, doch immer wenn sein Gesang endete,

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