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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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solle sie genügen.
    Im Oktober schickten sie Camille nach Cateau-Cambrésis. Kurz vor Weihnachten kam ein überschwänglicher Brief des Schuldirektors, der Camilles erstaunliche Fortschritte pries. Jean-Nicolas wedelte den Brief durch die Luft und sagte zu seiner Frau: »Hab ich’s dir nicht gesagt? Ich wusste doch, dass es das Richtige sein würde.«
    Aber Madeleine beunruhigte der Brief. »Es klingt, als wollten sie eigentlich sagen: ›Wie intelligent und attraktiv Ihr Kind doch ist, obwohl es nur ein Bein hat!‹«
    Jean-Nicolas fasste das als witzige Bemerkung auf. Erst am Tag zuvor hatte ihm Madeleine erklärt, er habe weder Humor noch Fantasie.
    Etwas später kam das Kind nach Hause. Es hatte einen schrecklichen Sprachfehler entwickelt und ließ sich kaum dazu bewegen, überhaupt etwas zu sagen. Madeleine schloss sich in ihrem Zimmer ein und ließ sich das Essen nach oben bringen. Camille sagte, die Patres seien sehr nett zu ihm gewesen, es sei seine eigene Schuld. Um ihn aufzumuntern, sagte sein Vater, von Schuld könne ja wohl keine Rede sein, es sei halt eine kleine Unannehmlichkeit. Camille beharrte auf einer dubiosen eigenen Verfehlung und fragte kalt, wann er wieder in die Schule zurückfahren dürfe, denn dort schere sich keiner darum und es werde nicht ständig darüber geredet. Jean-Nicolas setzte sich in kämpferischer Stimmung mit der Schule in Verbindung und fragte, warum sein Sohn neuerdings stottere. Die Priester behaupteten, er habe schon bei seiner Ankunft gestottert, worauf Jean-Nicolas erwiderte, dass er bei seiner Abreise von zu Hause nun ganz gewiss nicht gestottert habe, sodass man zu dem Schluss kam, seine flüssige Rede müsse irgendwo unterwegs auf der Kutschfahrt abhandengekommen sein wie ein Koffer oder ein Paar Handschuhe. Niemand war schuld, es war eines dieser Dinge, die einfach passieren.
    Im Jahr 1770, Camille war zehn Jahre alt, rieten die Priester seinem Vater, ihn von der Schule zu nehmen, da sie ihm nicht die Aufmerksamkeit widmen könnten, die er angesichts seiner Fortschritte verdiene. Madeleine meinte: »Wir könnten einen Privatlehrer für ihn suchen. Einen wirklich guten.«
    »Bist du verrückt?«, schrie ihr Mann sie an. »Hältst du mich für einen Herzog? Oder für einen englischen Baumwollbaron? Denkst du, ich besitze eine Kohlengrube? Oder Leibeigene?«
    »Nein«, sagte seine Frau. »Ich weiß genau, was du bist und was nicht. Ich habe keinerlei Illusionen mehr.«
    Letztlich war es ein de Viefville, der das Problem löste. »Eines ist gewiss«, sagte er, »es wäre ein Jammer, wenn aus Ihrem klugen Söhnchen nichts werden würde, nur weil es am Geld fehlt. Denn Sie«, fügte er rüde hinzu, »werden in diesem Leben ja ganz offensichtlich keine Berge mehr versetzen.« Er grübelte. »Er ist ein reizender Junge. Wir gehen davon aus, dass sich das Stottern verlieren wird. Lassen Sie uns mal über Stipendien nachdenken. Wenn wir ihn am Louis-le-Grand unterbringen könnten, wären die Ausgaben für die Familie vernachlässigbar.«
    »Würde man ihn dort denn nehmen?«
    »Nach allem, was ich höre, ist er außerordentlich intelligent. Als Anwalt wird er eine Zierde für die Familie sein. Ich werde dafür sorgen, dass sich mein Bruder, wenn er das nächste Mal in Paris ist, für ihn verwendet. Muss ich mehr sagen?«
    Die durchschnittliche Lebenserwartung in Frankreich ist mittlerweile auf fast neunundzwanzig Jahre gestiegen.
    Das Collège Louis-le-Grand war ein altes Institut. Es hatte ursprünglich unter der Leitung von Jesuiten gestanden; als diese des Landes verwiesen wurden, übernahmen es die Oratorianer, ein aufgeklärterer Orden. Die Alumni des Collège waren berühmt, aber sehr verschieden: Voltaire, nunmehr im ehrenvollen Exil, war einer von ihnen, ein anderer der Marquis de Sade, der sich jetzt in einem seiner châteaux verkrochen hatte, während seine Frau sich um die Milderung eines jüngst gegen ihn ergangenen Urteils wegen Vergiftung und Analverkehr bemühte.
    Das Collège befand sich in der Rue Saint-Jacques und war durch wuchtige hohe Mauern und Eisentore von der Stadt getrennt. Geheizt wurde dort nur, wenn sich auf dem Weihwasser im Taufbecken der Kapelle eine Eisschicht bildete, weshalb es im Winter häufig vorkam, dass jemand frühmorgens Eiszapfen erntete und in das Becken warf, in der Hoffnung, dass der Direktor es nicht so eng sehen würde.
    Ein eiskalter Luftzug fegte durch die Räume, trug gedämpftes Gemurmel in toten Sprachen weiter.
    Maximilien

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