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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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de Robespierre war seit einem Jahr dort.
    Bei seiner Ankunft hatte man ihm gesagt, er solle hart arbeiten – dem Abt zuliebe, denn dem Abt habe er diese großartige Gelegenheit schließlich zu verdanken. Und wenn er Heimweh bekomme, hatte man ihm gesagt, so werde es vergehen. Er setzte sich als Erstes hin und schrieb alles auf, was er auf der Reise gesehen hatte, damit er sich dieser Schuldigkeit entledigt und den Kopf für anderes frei haben würde. Die Verben konjugierten sich in Paris nicht anders als in Artois. Und wenn man sich auf die Verben konzentrierte, fügte sich der Rest von allein. Er folgte dem Unterricht mit größter Aufmerksamkeit. Seine Lehrer behandelten ihn freundlich. Er schloss keine Freundschaften.
    Eines Tages näherte sich ihm ein älterer Schüler, der ein kleines Kind vor sich her trieb. »He, Dingsda«, sagte der Junge. (Die anderen taten immer so, als könnten sie sich nicht an seinen Namen erinnern.)
    Maximilien blieb wie angewurzelt stehen, drehte sich jedoch nicht gleich um. »Meinen Sie mich?«, fragte er. Freundlich-herausfordernd, das konnte er gut.
    »Ich möchte, dass du ein Auge auf dieses Wickelkind hast, das aus unerfindlichen Gründen hier gelandet ist. Er ist aus deiner Gegend – Guise, glaube ich.«
    Maximilien dachte: Diese ignoranten Pariser meinen, das sei alles ein und dasselbe. Ruhig sagte er: »Guise liegt in der Picardie . Ich komme aus Arras . Arras liegt im Artois .«
    »Was spielt das schon für eine Rolle? Ich hoffe, du kannst etwas Zeit von deinen angeblich so fortgeschrittenen Studien abzwacken und ihm helfen, sich hier zurechtzufinden.«
    »Na schön«, sagte Maximilien. Er drehte sich auf dem Absatz um und betrachtete das sogenannte Wickelkind. Es war ein sehr hübscher, sehr dunkler Junge.
    »Wohin möchtest du denn?«, fragte er.
    In diesem Moment kam Pater Herivaux fröstelnd durch den Korridor gelaufen. Er blieb stehen. »Ah, Camille Desmoulins, du bist also da.« Pater Herivaux war ein angesehener Altphilologe. Er betrachtete es als seine Aufgabe, alles zu wissen. Doch Gelehrsamkeit hielt die herbstliche Kälte nicht fern, und es würde noch frostiger werden.
    »Wie ich höre, bist du erst zehn Jahre alt.«
    Das Kind blickte zu ihm auf und nickte.
    »Und sehr weit für dein Alter?«
    »Ja«, sagte das Kind. »So ist es.« Pater Herivaux biss sich auf die Lippe. Er eilte weiter. Maximilien setzte seine Brille ab und rieb sich die Augenwinkel. »Versuch es mal mit ›Ja, Pater‹«, schlug er vor. »Das wird hier erwartet. Nick nicht mit dem Kopf, das gefällt ihnen nicht. Und als er dich auf deine Begabung angesprochen hat, hättest du bescheidener sein sollen: ›Ich versuche mein Bestes, Pater‹, etwas in der Art.«
    »Bist wohl ein Speichellecker, Dingsda?«, sagte der kleine Junge.
    »Hör zu, das war eine Anregung. Ich lasse dich einfach an meiner Erfahrung teilhaben.« Er setzte die Brille wieder auf. Die großen dunklen Augen des Kindes gewannen Kontur. Er musste an die Taube denken, der ihr Käfig zur Falle geworden war, spürte einen Moment lang die Federn, weich und tot, das kleine Knochengerüst ohne Puls. Er strich mit der Hand über seinen Mantel.
    Das Kind stotterte. Ihm war das unangenehm. Überhaupt hatte die ganze Situation etwas Verstörendes. Er hatte das Gefühl, dass der Modus vivendi, den er gefunden hatte, gefährdet war, dass das Leben komplizierter werden würde und die Dinge sich für ihn zum Schlechteren gewendet hatten.
    Als er über die Sommerferien nach Hause fuhr, sagte Charlotte: »Gewachsen bist du ja kaum.«
    Das sagte sie Jahr für Jahr.
    Seine Lehrer schätzten ihn. Er hatte kein Flair, fanden sie. Aber er sagte immer die Wahrheit.
    Er war sich nicht ganz sicher, was seine Mitschüler von ihm hielten. Hätte man ihn selbst nach sich gefragt, hätte er sich als fähigen, sensiblen, geduldigen Menschen ohne Charme beschrieben. Doch inwiefern diese Selbsteinschätzung mit dem übereinstimmte, was andere über ihn dachten – nun ja, woher soll man wissen, ob die Gedanken, die man selbst im Kopf hat, jemals von jemand anderem gedacht worden sind?
    Er bekam nicht viel Post von zu Hause. Charlotte schickte relativ häufig kindliche Berichte über triviale Belange. Er hob ihre Briefe ein, zwei Tage auf, las sie zweimal und warf sie dann weg, da er nicht wusste, was er sonst damit anfangen sollte.
    Camille Desmoulins bekam zweimal in der Woche Post, seitenlange Briefe, die bald zu einer Art Volksbelustigung wurden. Er

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