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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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legte sie über einen freien Stuhl. Das reduzierte sie auf – was? Eine leidlich hübsche junge Frau im weißen Kleid. Es missfiel ihr sichtlich. In der Tasche des Rocks war etwas Schweres. »Sie tragen eine Waffe?«, fragte Brissot erstaunt.
    »Ich habe meine Pistole, seit wir das Invalidenhaus gestürmt haben. Wissen Sie noch, Camille?« Sie raschelte auf ihn zu. »Man sieht Sie seit ein paar Wochen gar nicht mehr auf den Straßen.«
    »Oh, ich gebe nicht die richtige Figur ab«, murmelte Camille. »Nicht so wie Sie.«
    Théroigne nahm seine Hand und drehte die Innenfläche nach oben. Die Bajonettwunde, die er sich am 13. Juli zugezogen hatte, war gerade noch zu ahnen. Théroigne fuhr sie ganz versunken mit dem Finger nach. Brissots Mund verzog sich eine Spur. »Störe ich?«
    »Ganz und gar nicht.« Das hätte gerade noch gefehlt, dass Lucile irgendwelche Gerüchte über Théroigne zu Ohren kamen. Seines Wissens führte Anne einen untadelig keuschen Lebenswandel; das Kuriose war, dass sie alles daranzusetzen schien, den gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Die royalistischen Skandalblätter schlugen sofort in jedwede sich bietende Kerbe; für sie war Théroigne ein Himmelsgeschenk.
    »Kann ich für Sie schreiben, liebster Camille?«, schnurrte sie.
    »Sie können es versuchen. Aber meine Ansprüche sind extrem hoch.«
    »Sie wären imstande und lehnen mich ab?«, fragte sie.
    »Allerdings wäre ich das. Die Auswahl ist einfach zu groß, fürchte ich.«
    »Hauptsache, klare Verhältnisse«, sagte sie. Sie griff sich ihre Jacke von dem Stuhl, über den Brissot sie gelegt hatte, und drückte ihm – aus irgendeiner verqueren Regung der Nächstenliebe heraus – einen Kuss auf die eingefallene Wange.
    Ein Duft blieb zurück, als sie fort war – ein Hauch von Schweiß, Lavendelwasser. »Calonne«, sagte Brissot. »Der hat auch immer Lavendelwasser benutzt, erinnern Sie sich?«
    »In diesen Kreisen habe ich nicht verkehrt.«
    »Doch, er hat Lavendelwasser benutzt.«
    Brissot musste es wissen. Er wusste alles. Für ihn waren alle Menschen Brüder. Er glaubte daran, dass alle aufgeklärten Menschen in Europa zusammenkommen sollten, um über die richtige Regierungsform und die Fortschritte in Kunst und Wissenschaft zu beraten. Er kannte Jeremy Bentham und Joseph Priestley. Er leitete eine Gesellschaft, die sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzte, und schrieb über juristische Fragen, das parlamentarische System in England und die Paulusbriefe. In sein derzeitiges beengtes Quartier in der Rue de Grétry hatte es ihn über die Schweiz, die Vereinigten Staaten, eine Zelle in der Bastille und eine Wohnung in der Brompton Road verschlagen. Tom Paine war ein naher Freund von ihm (sagte er), und George Washington hatte ihn mehr als einmal um Rat ersucht. Brissot war Optimist. Er glaubte fest daran, dass sich Vernunft und Freiheitsliebe immer und überall durchsetzen würden. Zu Camille war er gütig, hilfsbereit, eine Spur gönnerhaft. Er redete gern über seine Vergangenheit und beglückwünschte sich zu den besseren Tagen, die da kommen würden.
    Jetzt löste Théroignes Besuch – vielleicht ganz besonders der Kuss – einen regelrechten Schwall von Reminiszenzen und Betrachtungen bei ihm aus. »Ich hatte es oft schwer«, sagte er. »Mein Vater starb, und kurz darauf verfiel meine Mutter dem Wahnsinn.«
    Camille legte den Kopf auf den Tisch und lachte und lachte, bis sie dachten, er würde sich einen ernstlichen Schaden zuziehen.
    Freitags kam für gewöhnlich Fréron in die Redaktion. Camille genehmigte sich eine mehrstündige Mittagspause. Dann berieten sie über die Vorladungen, überlegten, wo sie sich entschuldigen sollten und wo nicht. Da Camille nie völlig nüchtern war, entschuldigten sie sich auch nie. Die Redakteure der Révolutions waren immer im Dienst. Mitten in der Nacht konnte eine haarsträubende neue Idee sie aus den Federn treiben; sie waren verurteilt dazu, auf der Straße bespuckt zu werden. Jede Woche, wenn die Zeitung in Satz ging, sagte Camille: Nie wieder, das war endgültig das letzte Mal. Aber pünktlich am Samstag darauf erschien die nächste Ausgabe, denn niemand durfte denken, er wäre eingeknickt vor DENEN , mit ihren Drohungen und Schmähungen und Provokationen, ihrem Geld und ihren Dolchstößen und ihren Freunden bei Hof. Wenn es Zeit war, die Feder zur Hand zu nehmen, dachte er keine Sekunde an die Folgen; nur der Stil zählte noch. Was habe ich nur an den Bettgeschichten

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