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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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Zweideutigkeit. Camille setzte seine Mitarbeiter über ihn ins Bild: Er hat früher Theaterkarten verkauft, aber sie haben ihn an die Luft gesetzt, weil er sich aus der Portokasse bedient hat.
    »Warum duldest du ihn?«, fragten sie. »Wenn er das nächste Mal kommt, können wir ihn gerne rausschmeißen.«
    So waren sie bei den Révolutions : stets dem Praktischen zugeneigt.
    »Ach, lasst ihn nur«, sagte Camille. »Er war schon immer ein unangenehmer Bursche. Er ist so geboren.«
    »Ich will meine eigene Zeitung rausbringen«, verkündete Hébert. »Sie soll anders sein als die hier.«
    Brissot war gerade auch da, er saß auf einem Tisch und zuckte. »Allzu anders besser nicht«, sagte er. »Immerhin ist diese hier ungemein erfolgreich.«
    Brissot und Hébert konnten sich nicht ausstehen.
    »Sie und Camille schreiben für die Gebildeten«, sagte Hébert. »Marat auch. Das hab ich nicht vor.«
    »Wollen Sie eine Zeitung für Analphabeten gründen?«, fragte Camille honigsüß. »Da wünsche ich Ihnen recht viel Erfolg.«
    »Ich will für den Mann auf der Straße schreiben. In der Sprache, die er versteht.«
    »Dann muss jedes zweite Wort eine Obszönität sein«, bemerkte Brissot naserümpfend.
    »Ganz genau«, sagte Hébert und trollte sich.
    Brissot war der Herausgeber des Patriote français (täglich erscheinend, Quartformat, staubtrocken). Er bereicherte außerdem aufs großzügigste, penibelste, erfinderischste die Zeitungen anderer Leute. Fast jeden Morgen kam er in die Redaktion gefedert, sein schmales knochiges Gesicht leuchtend von seinem neuesten guten Einfall. Mein Leben lang bin ich vor den Verlegern am Boden gekrochen, sagte er gern und schilderte dann, wie man ihn betrogen hatte, wie seine Ideen gestohlen und seine Manuskripte plagiiert worden waren. Er schien keinen Zusammenhang zwischen dieser traurigen Bilanz und der Tatsache zu sehen, dass er mittags um halb zwölf in einer fremden Redaktion stand, seinen verstaubten Quäkerhut in den Händen drehte und sämtliche seiner Ideen preisgab. »Meine Familie – verstehen Sie, Camille? – war sehr arm und ungebildet. Sie wollten, dass ich Mönch werde, das war das beste Leben, das sie sich vorstellen konnten. Ich hatte den Glauben verloren – und irgendwann musste ich ihnen das natürlich beibringen. Nicht, dass sie es verstanden hätten, wie denn auch? Es war, als sprächen wir unterschiedliche Sprachen. Als wären sie Schweden, und ich wäre Italiener – ungefähr so nah habe ich mich meiner Familie gefühlt. Also sagten sie, gut, dann kannst du vielleicht Anwalt werden. Und dann ging ich eines Tages die Straße entlang, und ein Nachbar sagte: ›Oh, schau, da kommt M. Janvier vom Gericht zurück.‹ Und er zeigte auf diesen Anwalt, diesen dümmlich aussehenden spitzbäuchigen Mann, der die Straße entlangtrottete, seine Akten für den Abend unterm Arm. ›Wenn du tüchtig arbeitest‹, sagte er, ›bringst du es auch so weit.‹ Und mir rutschte das Herz in die Hose. Oh, ich weiß, das ist eine Redensart – aber ich schwöre, so war es, es zog sich zusammen und sackte in meinen Magen hinab. Ich dachte, nein, jegliche Mühsal ist mir recht – sollen sie mich ins Gefängnis werfen –, aber so will ich nicht enden. Gut, so dumm sah er natürlich nicht aus, er hatte Geld, er war geachtet, er unterdrückte auch nicht etwa die Armen, er hatte gerade zum zweiten Mal geheiratet, und sogar eine sehr nette junge Frau … Warum also ließ mich das alles kalt? Ich hätte mir sagen können, es ist ein Auskommen, es ist nicht das Schlechteste. Aber so war es schon immer bei mir: feste Einkünfte, ein leichtes Leben – das reicht mir einfach nicht aus.«
    Einer von Camilles flatterhaften Gehilfen steckte den Kopf zur Tür herein. »Camille, da ist eine Frau für dich. Zur Abwechslung.«
    Théroigne kam hereingerauscht. Sie trug ein weißes Kleid und eine blau-weiß-rote Schärpe um die Taille. Über die schmalen, geraden Schultern hatte sie den Uniformrock eines Nationalgardisten gelegt. Ihr braunes Haar war ein windgepeitschter Wasserfall aus Locken – sie hatte einen jener teuren Coiffeure bemüht, die einen aussehen lassen, als hätte man sich ein Leben lang nicht frisiert. »Na, wie geht’s so?«, sagte sie. Der demokratische Gruß passte schlecht zu ihrer sonstigen Ausstrahlung, die etwas Aufgeputschtes, sinnlich Erregtes hatte.
    Brissot hüpfte von seinem Schreibtisch und hob ihr galant die Jacke von den Schultern, faltete sie sorgsam zusammen und

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