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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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– all den unkörperlichen Tugenden.
    Sie las Buffons Histoire Naturelle ; sie stieß darin auf Passagen, die sie tunlichst ausließ, manche Seiten blätterte sie schnell um, weil sie Wissen enthielten, das sie nicht besitzen wollte.
    Sieben oder acht Jahre, nachdem der Junge die Lehre bei ihrem Vater beendet hatte, traf sie ihn wieder. Er hatte gerade geheiratet, er war, wie sie feststellte, ein ganz normaler junger Mann. Es war ein kurzes Zusammentreffen, das für persönliche Gespräche keine Zeit ließ (nicht dass es sie danach verlangt hätte), aber er flüsterte ihr zu: »Ich hoffe, Ihr werft es mir nicht mehr vor; ich hab nichts an Euch begangen.«
    1776 änderte sich ihr Leben. Es war das Jahr, in dem Amerika seine Unabhängigkeit erklärte und sie die ihre aufgab. Sie hatte mehrere Heiratsanträge bekommen – vorwiegend von Geschäftsleuten zwischen zwanzig und Mitte dreißig. Sie war höflich zu ihnen gewesen, aber in keiner Weise ermutigend. Heiraten war etwas, worüber sie nach Möglichkeit nicht nachdachte. Ihre Familie begann zu verzweifeln.
    Aber im Januar dieses Jahres betrat Jean-Marie Roland die Bildfläche. Er war hochgewachsen, umfassend gebildet, weit gereist und vereinte die Güte eines Vaters mit der Strenge eines Lehrers. Er stammte aus dem niederen Adel, war aber der jüngste von fünf Söhnen; er besaß ein wenig Land, dazu das Geld, das er verdiente, mehr nicht. Er war Verwalter, von Beruf wie von Natur. In seiner Funktion als Inspektor hatte er ganz Europa bereist. Er wusste alles übers Bleichen und Färben, über das Klöppeln von Spitze und das Heizen mit Torf, über die Herstellung von Schießpulver, das Räuchern von Schweinefleisch und das Schleifen von Linsen, über Physik, den Freihandel und die alten Griechen. Er spürte sofort, wie begierig sie nach Wissen war – Wissen einer bestimmten Art zumindest. Anfangs fielen ihr weder seine seltsamen, staubigen Röcke und zerschlissenen Hemden auf noch die Schuhe, die statt mit Schnallen mit einem Stück Schnur gebunden waren. Als sie es dann bemerkte, dachte sie, wie erfrischend: ein Mann, der frei von Eitelkeit ist. Ihre Gespräche waren ernsthaft, voll von einer verhaltenen, wortklauberischen Liebenswürdigkeit.
    Er küsste ihr die Fingerspitzen, aber das war reine Artigkeit. Er saß am anderen Ende des Zimmers. Er unternahm keinerlei Annäherungsversuche. Eine Statue des Apostels Paulus beugte sich schließlich auch nicht herab und kraulte einen unterm Kinn.
    Sie wechselten Briefe, lange, fesselnde Briefe, deren Verfassen halbe Tage und deren Lektüre ganze Stunden in Anspruch nahm. Zunächst komponierten sie wohldurchdachte Aufsätze zu Themen von allgemeinem Interesse. Nach einigen Monaten begannen sie über die Ehe zu schreiben – ihren sakramentalen Charakter, ihren Nutzen für die Gesellschaft.
    Er reiste ein Jahr durch Italien und veröffentlichte ein Werk in sechs Bänden über seine Erfahrungen dort.
    1780, nach vier gedankenreichen, zaghaften Jahren, heirateten sie.
    Über die Hochzeitsnacht hatten sie nicht korrespondieren können. Sie wusste nicht, was sie sich vorzustellen hatte; sie gestattete sich keinen Gedanken an den Lehrburschen und seine hastigen Hände, keine Mutmaßungen darüber, was genau hinter ihrem Rücken vor sich gegangen war. Darum war sie nicht vorbereitet auf seinen Körper, seine eingefallene Brust mit den spärlichen, ergrauenden Haaren; war nicht vorbereitet auf die Hast, mit der er sich ihr näherte, oder auf den Schmerz der Defloration. Seine Atemzüge veränderten ihren Rhythmus, sie reckte den Kopf über seine Schulter hoch. »Ist das …?«, fragte sie. Aber er hatte sich schon von ihr weggewälzt, in den Schlaf, und schnaufte mit offenem Mund ins Dunkel.
    Am nächsten Morgen beugte er sich bußfertig und besorgt über sie: »Warst du gänzlich unwissend? Meine arme, liebe Manon, hätte ich nur geahnt …«
    Ein Kind (dachten beide) reicht als Rechtfertigung für eine Ehe: Eudora, geboren am 4. Oktober 1781.
    Sie besaß die Gabe – auf die sie sehr stolz war –, die wesentlichen Punkte einer komplexen Materie innerhalb von Minuten zu erfassen. Man konnte ihr jedwedes Thema nennen, die Punischen Kriege, sagen wir, oder die Herstellung von Talgkerzen, und binnen eines Tages war sie imstande, erschöpfend darüber zu referieren; binnen einer Woche wäre sie in der Lage gewesen, ihre eigene Fabrik aufzumachen oder einen Schlachtplan für Scipio Africanus zu entwerfen. Es machte ihr Spaß,

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