Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
der Werkstatt herumlungerte, spürte sie die Spannung zwischen ihnen wie einen unsichtbaren Draht. Quälte sie ihn vielleicht ein bisschen, wenn sie so hinein- und wieder herausflatterte, beschützt durch das Beisein anderer? Immer wieder musste sie an dieses seltsame Stück Fleisch denken, blind und weiß und zitternd wie etwas Neugeborenes.
Eines Tages fanden sie sich dann doch allein miteinander. Sie wahrte Abstand zu ihm; er sollte sie nicht noch einmal so zu packen bekommen. Diesmal kam er von hinten, als sie am Fenster stand und hinaussah. Er schob die Hände unter ihren Armen durch und zog sie rückwärts auf seine Knie, während er sich gleichzeitig auf einen Stuhl setzte. Er zerrte ihren Rock hoch, fasste ihr zwischen die Beine, einmal nur. Dann klappte sein sommersprossiger Arm, mager und kraftvoll, über ihrem Leib zu wie ein Bügel, die Hand zur Faust geballt. Sie starrte hinab auf diese Faust – hing in seinem Griff wie eine Puppe, eine schlaffe, leblose Puppe, ihre hübschen Lippen halb geöffnet, während er sich der Befriedigung entgegenkeuchte und -schnaufte. Nicht, dass sie es als Befriedigung zu bezeichnen gewusst hätte, aber dass irgendein Schlusspunkt erreicht war, begriff sie, denn er gab sie frei und murmelte ein paar vage Freundlichkeiten, und nicht ein einziges Mal (dachte sie später) schaute er ihr dabei ins Gesicht, nein, er hielt sie mit voller Absicht so, dass er nicht zu sehen brauchte, ob sie erfreut oder entsetzt war, ob sie lachte oder nur zu verdattert war, um zu schreien.
Sie rannte davon, und nicht viel später – bei der ersten, hastigen Nachfrage, was ihr fehlte – brach die ganze Geschichte aus ihr heraus. Die Tränen begannen zu strömen, ihre Beine gaben unter ihr nach, sie schwankte zu einem Stuhl. Das Gesicht ihrer Mutter zersprang regelrecht vor Entsetzen. Sie fasste nach ihr, zerrte sie wieder auf die Füße, packte sie mit eisernem Griff an den Oberarmen. Sie schüttelte sie – ihr kostbares Kind –, schrie ihr Fragen entgegen: Was hat er mit dir gemacht, wo hat er dich berührt, sag mir jedes Wort, das er gesagt hat, jedes Wort, hab keine Angst, sag’s deiner Mutter (während sie sie immer wieder schüttelte, ihr verzerrtes Gesicht nur Zentimeter von Manons entfernt): Hast du ihn auch anfassen müssen, blutest du, sag’s mir, Manon, sag es, sag es!
Heulend wie eine Dreijährige wurde Manon die Straße entlang und zur Kirche geschleift, wo ihre Mutter wild an der Glocke riss, die den Priester zu einem Mörder oder einem Sterbenden ruft, damit er geeilt kommt, um ihm die Absolution zu erteilen und seine Seele vor dem Höllenfeuer zu erretten. Und er kam geeilt … Ihre Mutter schubste sie vorwärts und ließ sie dann allein mit dem Halbdunkel und dem asthmatischen Keuchen des ältlichen Paters. Der Pater wandte ihr sein gutes Ohr zu und lauschte dem krampfhaften Schluchzen eines geschändeten Kindes, wie er dachte.
Das Merkwürdige an der Sache war, dass sie den Jungen nicht fortschickten. Sie fürchteten das Aufsehen. Sie fürchteten, wenn die Geschichte ans Licht käme, würde man es vielleicht ihr ankreiden. Sie musste dem Jungen jeden Tag unter die Augen treten, auch wenn er nicht mehr mit am Familientisch aß. Jetzt wusste sie, dass die Schuld bei ihr lag – und das hatte nichts mit dem zu tun, was andere sagten oder dachten, sondern einzig mit einer inneren Aussöhnung, die es nicht geben konnte. Es hätte, sagte ihre Mutter, viel schlimmer ausgehen können; sie sei unberührt , sagte ihre Mutter, was für sie völlig widersinnig klang. Denk einfach nicht mehr dran, riet ihre Mutter; wenn du erst erwachsen und verheiratet bist, kommt es dir nur noch halb so schlimm vor. Aber trotz allen Bemühens – oder vielleicht gerade deswegen – konnte sie nicht aufhören, daran zu denken. Immer wieder errötete sie und begann inwendig zu zittern, und ihr Kopf machte unwillkürliche kleine Zuckbewegungen dabei.
Als sie zweiundzwanzig war, lebte ihre Mutter schon nicht mehr; vormittags kümmerte sie sich um den Haushalt, an den Nachmittagen bildete sie sich – lernte Italienisch und Botanik, verwarf die Systeme des Helvétius, betrieb ihre mathematischen Studien. An den Abenden las sie klassische Geschichte. Dann saß sie mit geschlossenen Augen über ihren Büchern, die Hände noch auf den Seiten, und träumte von der Freiheit. Sie zwang sich, bei dem zu verweilen, was uns Menschen groß macht, bei Fortschritt, Geistesadel, Brüderlichkeit und Selbstaufgabe
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