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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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gefahren. Aber sie denkt: Paris ruft nach mir. Ich bin dort geboren.
    Ihr Vater hatte seinen Laden am Quai d’Horloge gehabt, nahe dem Pont-Neuf. Er war Graveur – ein modisches Gewerbe mit modischen Kunden –, und er hatte das Auftreten dazu: selbstbewusst und doch unterwürfig, Künstler und Handwerker in einem, nicht Fisch und nicht Fleisch.
    Getauft war sie auf den Namen Marie-Jeanne, aber genannt wurde sie nur Manon. Ihre Brüder und Schwestern starben alle. Es muss einen Grund geben, dachte sie mit acht oder neun, warum der gütige Gott mich verschont hat, irgendeinen speziellen Auftrag. Sie sah sich ihre Eltern gut an, registrierte mit kaltem Kinderblick ihre Begrenzungen, ihre sorgfältig aufgetragene Tünche der Vornehmheit. Sie hüteten sie wie ihren Augapfel, begegneten ihr fast mit einer gewissen Ehrfurcht. Sie erhielt eine Menge Musikstunden.
    Als sie zehn war, kaufte ihr Vater ihr gleich mehrere Abhandlungen über die Erziehung der Jugend; ein Buch mit dem Wort »Erziehung« im Titel konnte nicht verkehrt sein, dachte er.
    Dieses kluge Kind, dieses hübsche Kind, dieses Kind, für das nichts gut genug war: Wie konnten sie so unbedacht sein, es an jenem Tag allein in die Werkstatt zu lassen? Aber der Junge, der Lehrbursche (fünfzehn und groß für sein Alter, sommersprossig, mit breiten Händen) hatte immer wohlerzogen gewirkt, harmlos. Es war Abend, er arbeitete unter einer Lampe, und sie stand an seinem Arm und sah ihm zu. Sie dachte sich nichts dabei, als er ihre Hand nahm. Er hielt sie einen Augenblick, spielte mit ihren Fingern, lächelte mit schräg gelegtem Kopf zu ihr hoch – und zog die Hand dann unter die Werkbank.
    Dort berührte sie fremdes Fleisch, einen feuchten, geschwollenen Fleischpfahl, der von verborgenem Leben zitterte. Er verstärkte seinen Griff um ihr Handgelenk, drehte sich im Stuhl zu ihr um. Sie sah, was sie berührt hatte. »Dass du’s ja keinem sagst«, flüsterte er. Sie riss ihre Hand los. Ihre Augenbrauen schossen hinauf bis zu den wippenden Stirnlocken, und sie stürmte hinaus und warf die Werkstatttür hinter sich zu.
    Auf der Treppe hörte sie ihre Mutter nach ihr rufen. Irgendeine kleine Besorgung, ein Botengang, der erledigt sein wollte – hinterher konnte sie sich nicht erinnern, was es genau gewesen war. Sie führte ihren Auftrag aus, mit leerem Blick und einem flauen Gefühl im Magen. Sagte nichts. Wusste nicht, was sie hätte sagen sollen.
    Aber in den darauffolgenden Wochen – und das war etwas, das sie später nicht begriff, weil sie nicht glauben konnte, dass sie ein Kind mit verderbten Neigungen gewesen war – ging sie immer wieder in die Werkstatt. Ja: Sie nutzte die Gelegenheit. Sie erfand kleine Ausreden dafür; als hätte sie es in jenen Tagen darauf angelegt, die Augen vor ihrer eigenen Natur zu verschließen. Es war bloße Neugier, argumentierte ihr Erwachsenen-Ich: die natürliche Neugier des überbehüteten Kindes. Aber ihr Erwachsenen-Ich sagte auch: Du hast damals Ausflüchte gesucht, und du suchst immer noch Ausflüchte.
    Der Junge aß mit der Familie zu Abend; weil er so jung war und so weit weg von zu Hause, war ihre Mutter besorgt um ihn. Manon konnte es sich nicht leisten, sich in seiner Gegenwart anders als sonst zu verhalten; die anderen würden sich wundern, vielleicht sogar Fragen stellen. Und wenn schon – ich habe nichts Unrechtes getan, sagte sie sich. Aber ihr kamen Zweifel, ob es im Leben sehr gerecht zuging, ob man nicht oft für Dinge büßte, für die man nichts konnte. In der Kindheit war das auf jeden Fall so, Tag für Tag gab es gedankenlose Klapse, Kinderzimmer-Ungerechtigkeiten. Das Erwachsenenleben, hatte sie immer gedacht, würde anders sein, rationaler – doch nun stand sie schon fast auf der Schwelle zum Erwachsenenleben. Je näher es rückte, desto gefährlicher kam ihr alles vor, desto weniger schien es, dass die Menschen der Vernunft zugänglich waren. Eine hartnäckige innere Stimme sagte ihr: Du hast keine Schuld, aber es kann dir passieren, dass es so aussieht, als ob.
    Einmal raunte er ihr zu: »Ich hab dir nichts gezeigt, was deine Mutter nicht auch kennt.« Sie warf das Kinn hoch, öffnete den Mund, um diese Frechheit abzuschmettern, aber im selben Moment kam ihre Mutter mit einem Teller Brot und einer Schüssel Salat zur Tür herein, und so saßen sie Seite an Seite, zwei brave Kinder, zwei schüchterne Kinder, die die Augen aufs Tischtuch senkten und Gott für Salat, Käse und Brot dankten.
    Wenn sie in

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