Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
nächste Woche.«
»Ich hatte auch ein Kind.«
»Was? Wirklich? Wann denn?«
»Sie ist tot.«
»Das tut mir leid.«
»Sie wäre jetzt – ach, ich weiß gar nicht. Die Jahre verfliegen so schnell. Sie starb in dem Frühjahr vor der Bastille. Nein, das stimmt nicht – ’88 war es. Ich hatte sie bei einer Ziehmutter gelassen. Ich habe jeden Monat für sie gezahlt, von überall habe ich ihr Geld geschickt, Italien, England. Aber das heißt nicht, dass ich gefühllos bin, Lucile, es heißt nicht, dass ich sie nicht geliebt habe. Das habe ich. Sie war mein kleines Mädchen.«
Lucile ließ sich schwerfällig wieder in ihrem Sessel nieder. Sie wölbte die Hände über dem unsichtbaren, zappelnden Ding in ihrem Bauch. Ihre Züge waren angespannt. Etwas in Théroignes Ton – etwas sehr schwer Einzuordnendes – gab ihr das Gefühl, dass sie es sich nur ausdachte. »Wie hieß Ihr kleines Mädchen denn?«
»Françoise-Louise.« Théroigne sah auf ihre Hände hinab. »Eines Tages hätte ich sie zu mir geholt.«
»Das weiß ich«, sagte Lucile. »Möchten Sie mir von den Österreichern erzählen? Ist es das?«
»Ach, die Österreicher. Seltsam waren die.« Théroigne warf den Kopf zurück. Sie lachte, ein unsicheres, gezwungenes Lachen – beunruhigend, wie sie von Thema zu Thema sprang, von Stimmung zu Stimmung. »Sie wollten alles über mein Leben wissen, jede Einzelheit von meiner Geburt an. Wo waren Sie an dem und dem Tag, in dem und dem Monat, dem und dem Jahr? Ich weiß es nicht mehr, sagte ich meistens – darauf sie: ›Gestatten Sie uns, Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, Mademoiselle‹; und schon zogen sie wieder irgendein Papier hervor, irgendeine kleine Rechnung, die ich unterschrieben hatte, eine Quittung, einen Wäschezettel, einen Pfandschein. Unheimlich, diese Papierstücke: als hätten mir mein Lebtag, seit ich meinen Namen schreiben gelernt habe, diese verflixten Österreicher nachspioniert.«
Wenn auch nur die Hälfte davon wahr ist, dachte Lucile, was wissen sie dann über Camille? Oder Georges-Jacques? Sie sagte: »Sie wissen selber, dass das nicht stimmen kann.«
»Wie erklären Sie es sich dann? Sie hatten ein Dokument aus England, meinen Vertrag mit diesem italienischen Gesangslehrer, diesem Mann, der versprochen hatte, mich zu fördern. Und ja, musste ich ihnen beipflichten, das ist meine Handschrift, ich wusste noch, wie ich damals unterschrieben hatte – die Idee dahinter war, dass er mir Stunden geben und meine Technik verbessern sollte, und ich würde es ihm von meinen Konzertgagen zurückzahlen. Aber diesen Vertrag, Lucile, hatte ich an einem nebligen Londoner Nachmittag in Soho unterschrieben, im Haus meines Lehrers in der Dean Street. Also erklären Sie mir bitte, erklären Sie mir, wenn Ihnen irgendetwas dazu einfällt: Wie gelangt ein Stück Papier aus der Dean Street in Soho auf den Schreibtisch des Gefängniskommandanten in Kufstein? Wie kann es dort hingekommen sein, wenn nicht jemand mir all diese Jahre gefolgt ist?« Unvermittelt lachte sie wieder, ein Kichern, dümmlich, verstörend. »Auf diesem Papier hatte ich unterschrieben, und darunter stand ›Anne Théroigne, Spinster.‹ Weil ich doch unverheiratet war. Und die Österreicher sagten: ›Wer ist das, dieser Engländer, dieser Mr. Spinster? Sind Sie eine heimliche Ehe mit ihm eingegangen?‹«
»Sehen Sie«, sagte Lucile, »sie wissen doch nicht alles über Sie. Und Kufstein, wie ist Kufstein?«
»Es wächst direkt aus dem Felsen«, sagte Théroigne. Ihre Stimmung war neuerlich umgeschlagen, sie sprach jetzt ruhig und verhalten, wie eine Nonne, die Rückschau auf ihr Leben hält. »Von meinen Fenstern konnte ich die Berge sehen. Ich hatte einen weißen Tisch und einen weißen Stuhl.« Sie runzelte die Stirn, als versuchte sie sich zu erinnern. »In meiner ersten Zeit in der Haft habe ich gesungen. Ich sang jedes Lied, das ich kannte, jede Arie, jede kleine Melodie. Und als ich damit durch war, fing ich wieder von vorne an.«
»Haben sie Ihnen wehgetan?«
»Oh, nein. Gar nicht. Sie waren höflich, sie waren … rührend. Jeden Tag, wenn sie mir mein Essen brachten, fragten sie, worauf ich Appetit hätte.«
»Aber was wollten sie von Ihnen, Anne?« Am liebsten hätte sie hinzugefügt: »Wo Sie doch so unbedeutend sind.«
»Sie sagten, ich hätte die Oktoberunruhen organisiert, und sie wollten wissen, wer mich dafür bezahlt hätte. Sie sagten, dass ich auf einer Kanone in Versailles eingeritten wäre und
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