Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
Danton so wenig kannte.
Über diesen Gedanken musste er eingeschlafen sein, und als er aufwachte, war sie verschwunden. Es war neun Uhr abends. Morgen, dachte er, wird sie mit beschwingten Schritten die Straße entlanggehen, alle anlächeln, die ihr begegnen, und grundlos Besuche machen.
In den folgenden Tagen quälte er sich mit Gewissensbissen. Beim zweiten Mal war sie lockerer, weniger verkrampft, aber nichts deutete darauf hin, dass es ihr gefiel. Sollte sie schwanger werden, würden sie auf der Stelle heiraten müssen, machte er sich klar. Vielleicht, dachte er, kommen ja neue Leute ins Haus, wenn der Konvent zusammentritt, vielleicht wirft jemand ein Auge auf sie, und ich kann großmütig sein und sie von jeder Bindung oder Verpflichtung freisprechen.
Aber tief drinnen wusste er, dass das nicht passieren würde. Niemand würde ein Auge auf sie werfen. Die Familie würde es zu verhindern wissen. Ehepaare, so sagte er sich, können sich heutzutage scheiden lassen. Aber das Einzige, was uns voneinander scheiden kann, wird der Tod sein.
Camille saß an seinem Ministeriumsschreibtisch, und seine Gedanken wanderten in alle Richtungen. Die Nacht fiel ihm ein, die er bei seinem Vetter de Viefville verbracht hatte, damals, bevor er zu Mirabeau gegangen war. Barnave war dagewesen. Barnave hatte mit ihm gesprochen, als wäre er eine ernstzunehmende Persönlichkeit. Ihm war Barnave ja immer sympathisch gewesen. Jetzt saß er im Gefängnis – heimliche Verbindungen zum Hof, lautete die Anklage, in deren Sinne er natürlich voll und ganz schuldig war. Camille seufzte. Er malte kleine Schiffchen an den Rand des Schreibens, das er gerade aufsetzte: ermutigende Worte an die Jakobiner in Marseilles.
Die Mitglieder des Nationalkonvents trafen nach und nach in Paris ein. Augustin Robespierre: Camille, du hast dich kein bisschen verändert. Und Antoine Saint-Just … Gott verleihe ihm Geduld mit Saint-Just, es durfte nicht sein, dass diese unselige, vernunftwidrige Abneigung wieder aufflackerte …
»Bei ihm habe ich immer das Gefühl, dass sein Hirn voll grässlichster Gedanken steckt«, sagte er zu Danton.
Und Danton, ganz im Geiste der Solidarität, sagte mit seiner müden Anwaltsstimme: »Ich bitte dich, versuch Frieden zu halten, ja? Und Maximilien nicht ständig zu enttäuschen. Du verursachst ihm auch so schon genug Scherereien, mit all diesen Seitensprüngen, die er fortwährend bemänteln muss.«
»Die Seitensprünge werden bei Saint-Just nicht das Problem sein, das stimmt.«
»Nein, so sieht er nicht aus.«
»Was ihn zweifellos zum Liebling aller machen wird.«
»Zweifellos!« Danton lachte. »Der Kerl ist mir unheimlich. Dieses kalte, kalkulierte Grinsen.«
»Vielleicht versucht er ja, freundlich zu wirken.«
»Hérault wird eifersüchtig werden. Er bekommt Konkurrenz bei den Damen.«
»Hérault kann beruhigt sein. Die Damen lassen Saint-Just kalt.«
»Das hast du von Saint Maximilien auch immer behauptet, aber jetzt hat ihn die holde Cornélia erobert. Oder etwa nicht?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich aber.«
Denn das war neuerdings das große Thema, neben der angeblichen Untreue von Rolands Frau und der Menage hier an der Place des Piques. Womit die Menschen alles ihre Zeit verschwenden, dachte er.
Danton würde vielleicht bald aus dem Amt scheiden. Für sich selbst würde Camille froh darüber sein. Dagegen schien es so gut wie sicher, dass Rolands Anhänger dafür sorgen würden, dass Roland auch nach seiner Wahl in den Konvent Innenminister blieb. Trotz des Skandals um den Kronschatz saß der verstaubte alte Bürokrat fest im Sattel. Und wenn er sein Amt behielt, warum dann nicht Danton, den die Nation so viel dringender brauchte?
Ich will nicht viel länger hier arbeiten, dachte er. Ich verwandle mich noch in Claude. Ich will eigentlich auch nicht zum Konvent sprechen, sie werden mich nicht hören können. Andererseits, sagte er sich, geht es nicht darum, was ich will.
Beunruhigender war, dass Danton selbst nicht Minister bleiben wollte. Auch jetzt ließ er nicht ab von seinem Traum – seinem Wahn –, für immer aus Paris fortgehen zu wollen. Irgendwann in den frühen Morgenstunden hatte Camille ihn einmal angetroffen, wie er allein in einem See aus gelbem Kerzenlicht saß, ganz versunken in seine Besitzurkunden, seine Grenzsteine, Wasserläufe, Wegerechte in Arcis. Als er den Kopf hob, sah Camille in seinen Augen Bilder von Katen, Äckern, Gehölzen und Bächen.
»Oh« – er war
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