Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
hast du mich nicht gehört? Ich habe gesagt, ich verstehe, was du meinst.«
Schließlich löste sie ihr Haar, sodass es über ihre eckigen Schultern und den Rücken hinabwallte. Sie stieß es von ihren kleinen Brüsten weg und beugte sich zum Spiegel vor, um sich zu begutachten. Vielleicht war es töricht, sich einzubilden, sie mit ihrem unscheinbaren Gesicht … Gestern war Lucile Desmoulins mit ihrem Kind zu ihnen zu Besuch gekommen, und sie hatten sich alle um sie versammelt und viel Wesens um sie gemacht; Lucile hatte den Kleinen Victoire zu halten gegeben und allein dagesessen, eine Hand über die Armlehne ihres Sessels herabfallend wie eine Winterblume mit ganz zartem Eisrand. Als Max ins Zimmer trat, wandte sie den Kopf und lächelte, und in seinem Gesicht leuchtete etwas auf … Brüderliche Zuneigung, so nannte man das wohl – aber für mich, dachte sie, wenn es irgendeine Gerechtigkeit gibt, sollte er für mich mehr empfinden als das.
Sie strich über ihren flachen Bauch, die flachen Hüften. Wie weich sich ihre Haut anfühlte: So würde sie sich für ihn auch anfühlen. Aber als sie sich vom Spiegel abwandte, streifte ihr Blick nur wieder ihre gedrungene, kantige Figur, und als sie in sein Bett schlüpfte und den Kopf auf sein Kissen legte, spürte sie nur noch vage Enttäuschung. Dann lag sie da und wartete, ihr ganzer Körper starr vor Anspannung.
Sie hörte seinen Schritt auf der Treppe – drehte das Gesicht entschlossen der Tür zu. Einen grauenhaften Sekundenbruchteil lang stellte sie sich vor, der Hund käme hereingehechelt, um sich mit sabbernden Lefzen auf sie zu stürzen und, wie so oft, auf ihren frisch gewaschenen, glänzend gebürsteten Haaren herumzukauen.
Aber die Klinke bewegte sich, und herein kam – nichts. Er zögerte auf der Schwelle, mit einem Gesicht, als würde er am liebsten rückwärts wieder hinaus- und die Stufen hinunterfliehen. Dann gab er sich einen Ruck und trat ins Zimmer. Ihre Blicke trafen sich, notgedrungen. Er hielt einen Stoß loser Blätter in der Hand, und als er ihn, ohne die Augen von ihr zu wenden, ablegen wollte, flatterten ein paar Blatt zu Boden.
»Mach die Tür zu«, sagte sie. Sie hoffte, mehr Worte würden nicht nötig sein, hoffte, damit wäre alles gesagt; aber so, wie es über ihre Lippen kam, klang es einfach wie ein praktischer Vorschlag – mach die Tür zu, es zieht.
»Eléonore, ist das eine gute Idee?«
Ein ungeduldiger, selbstironischer Ausdruck glitt über seine Züge: Was für eine Frage! Er nahm ihre Hände und küsste ihre Fingerspitzen. Er musste ihr klipp und klar sagen, dass es nicht in Frage kam; er bückte sich, um die verstreuten Papiere aufzuheben, und das Blut schoss ihm in die Wangen, als er erkannte, wie absolut undenkbar es wäre, ihr zu befehlen, aufzustehen und zu gehen.
Sie hatte sich aufgesetzt. »Keiner wird etwas einwenden«, sagte sie. »Sie verstehen es. Wir sind keine Kinder mehr. Sie werden uns keine Steine in den Weg legen.«
Wie gütig von ihnen, dachte er. Er setzte sich auf die Bettkante und streichelte ihre Brust, spürte ihre Brustwarze unter seiner Hand hart werden. Die Besorgnis stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Es ist in Ordnung«, sagte sie. »Wirklich.«
Niemand hatte sie jemals zuvor geküsst. Er tat es sehr behutsam, aber sie wirkte trotzdem erschrocken. Am besten, er zog sich aus, dachte er, ehe sie ihn dazu aufforderte, ihm erklärte, dass es völlig in Ordnung sei. Er berührte fremdes Fleisch, weiches, unbekanntes Fleisch; in seiner Anfangszeit in Versailles hatte es ein Mädchen gegeben, das er öfter besuchte, aber sie war kein gutes Mädchen gewesen, in keiner Weise, und es war einfacher gewesen, die Sache einschlafen zu lassen, und seither war es einfacher gewesen, gar nichts zu tun; Enthaltsamkeit ist leicht, aber Beinahe-Enthaltsamkeit ist etwas sehr Schwieriges, Frauen können nichts für sich behalten, und die Zeitungen gieren nach Tratsch … Eléonore schien einen Aufschub weder zu erwarten noch zu wünschen. Sie drängte ihren Körper an seinen, aber es war ein Körper, der wie in Abwehr versteift war. Sie kennt das Was, dachte er, aber niemand hat sie in das Wie eingeweiht. Weiß sie, dass sie zu bluten anfangen könnte? Einen Moment lang wurde ihm flau im Magen.
»Schließ die Augen, Eléonore«, flüsterte er. »Versuch lockerzulassen, nur für ein Weilchen, bis du dich wieder …« Besser fühlst, hätte er fast gesagt, als säße er an einem Krankenbett. Er strich ihr übers
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