Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
Vom Netzwerk:
hochgestuft werden musste; sie konnte sich nicht versagen, es Camille gegenüber zu erwähnen, und auch er fand ihn bewundernswert verdeckt. Denn während Karnickel kummervolle Anspielungen auf Camilles Seitensprünge fallenließ und Hérault ihr damit in den Ohren lag, dass sie unglücklich sei und dass er dies ändern könne, saß der General einfach da und erzählte Geschichten über das Leben auf Martinique oder die Absurditäten der höfischen Etikette vor der Revolution. Er erzählte ihr von seiner Tochter, die so alt wie Lucile war und der man als kleinem Mädchen eingeschärft hatte, sich nie in zu helles Licht zu stellen, damit ihr blühender Teint nicht die welkende Königin gegen sie einnahm. Er erzählte ihr von seiner vornehmen, exzentrischen franko-irischen Familie. Er unterhielt sie mit den Spleens seiner zweiten Frau, Laure, und den Marotten diverser hübscher, hohlköpfiger Mätressen früherer Tage. Er schilderte ihr die Fauna Westindiens, die Hitze, die Bläue des Ozeans, die steil ins Meer hinabfallenden, üppig berankten grünen Hänge, die wehenden Blumen, die noch in der Knospe verfaulten; er beschrieb ihr das groteske Zeremoniell, das den Gouverneur von Tobago, sprich ihn selbst, umgab. Kurzum, er erzählte ihr, welch schönes Leben man seinerzeit als der Spross einer distinguierten alten Familie hatte, der keine Geld- oder sonstigen Sorgen kannte und überdurchschnittlich gutaussehend, weltgewandt und dazu extrem anpassungsfähig war.
    Als Nächstes erzählte er ihr dann, welch außergewöhnlichen jungen Mann sie geheiratet hatte. Er konnte in bewundernswerter Ausführlichkeit aus Camilles Reden zitieren, und gar nicht einmal so falsch. Er erklärte ihr – ihr! –, dass es für jemand so Sensiblen wie Camille unabdingbar sei, alles tun zu dürfen, was ihm passte, solange es nichts Kriminelles war oder zumindest nichts allzu Kriminelles.
    Und dann legte er manchmal den Arm um sie, versuchte sie zu küssen und sagte: Liebe kleine Lucile, lass mich dir den Himmel auf Erden schenken. Wenn sie dann ablehnte, machte er ein ungläubiges Gesicht und fragte, warum sie ihr Leben nicht etwas mehr genießen wolle. Sie glaube doch nicht etwa, dass Camille etwas dagegen hätte?
    Was sie nicht wussten, diese Herren, was sie nicht begriffen, war – ja, im Prinzip alles. Sie ahnten nichts von der köstlichen Marter, die sie für sich ersonnen hatte, der Folterbank, auf der ihre Tage und Wochen ausgespannt waren. Kaltblütig legte sie sich ihre immerwährende Frage vor, und die Frage lautete: Was, wenn Camille etwas zustößt? Was, wenn er – um es in aller Härte zu sagen – ermordet wird? (Wenn sie eine Meuchelmörderin wäre, bei Gott, es würde sie in den Fingern jucken!) Natürlich stellte sich ihr diese Frage nicht jetzt erst, seit ’89 ging das nun so, aber ihre Obsession war seitdem stärker geworden, nicht schwächer. Darauf war sie nicht gefasst gewesen; die Schulmeinung zum Thema Liebesheirat war, dass nach einem Jahr im Sinnentaumel die Emotionen langsam abflachten. Niemand hatte ihr auch nur angedeutet, dass man sich verlieben und immer wieder aufs neue verlieben kann, bis man sich krank fühlt davon, elend und ausgelaugt, als würde einem das Mark aus den Knochen gesogen. Wenn Camille nicht mehr da wäre – wenn er für immer fort wäre –, dann gäbe es für sie nur noch ein Dahinvegetieren, eine dumpfe, aus purem Pflichtgefühl aufrechterhaltene Scheinexistenz, ein Sich-dem-Tode-Entgegenschleppen, denn der entscheidende Teil von ihr wäre schon tot. Wenn ihm etwas zustößt, dann bringe ich mich um, dachte sie; dann soll es offiziell sein, damit sie mich wenigstens begraben können. Und das Kind käme zu meiner Mutter.
    Natürlich erwähnte sie dieses Folterprogramm vor niemandem. Man würde sie nur für verrückt halten. Zumal Camille dieser Tage seine Schwächen fein säuberlich in Stärken umwandelte. Legendre warf ihm vor, nicht öfter im Konvent zu sprechen. »Mein lieber Legendre«, erwiderte er, »nicht jeder hat deine Lunge.« Du tollpatschiger, spatzenhirniger Wichtigtuer, besagte sein Lächeln dabei. Und seinen Kollegen von der Bergpartei musste er die dunklen Reden Marats deuten, der nur noch mit ihm und Fréron verkehrte. (Marat hatte einen neuen Gegenspieler, einen großsprecherischen Sansculotten und Ex-Priester namens Jacques Roux.)
    »Sie sind Ihrer Zeit um zweihundert Jahre voraus«, sagte Camille ihm. Marat, aschgrauer und reptilienhafter denn je, klappte die Lider

Weitere Kostenlose Bücher