Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
gegenseitige Feindseligkeit abbauen. Die Kanoniere harren bei ihren Kanonen aus. Ihr Kommandeur sieht finster von seinem Pferd herab und belehrt den Konventspräsidenten, dass zwar er, Hérault, als ein Patriot angesehen werde, jedoch auch Verständnis dafür haben müsse, wenn das Volk nun sein Recht verlange.
Hérault lächelt etwas abwesend. Er und seine Kollegen sind dabei, letzte Hand an die Verfassung der Republik zu legen, jenes Stück Papier, das Frankreich für immer die Freiheit schenken soll; und hier … »Man hat vollstes Verständnis«, erwidert er gedämpft. Und er dreht sich um und führt seinen langen Zug Umzingelter zurück in den Saal. Eine Anzahl von Sansculotten hat sich dort in den Bankreihen breitgemacht und tauscht Artigkeiten mit einigen Abgeordneten von der Bergpartei aus, die genau diesen Ausgang vorausgesehen und sich gar nicht erst von ihren Plätzen gerührt haben.
Der Abgeordnete Couthon, der Heilige im Rollstuhl, ergreift das Wort: »Bürger, sämtliche Mitglieder des Konvents dürften sich jetzt von ihrer Freiheit überzeugt haben. Ihr seid hinaus zum Volk gegangen, ihr habt mit eigenen Augen gesehen, dass das Volk gut und großmütig ist und die Sicherheit seiner Delegierten niemals bedrohen würde, sehr wohl aber die von Verschwörern, die nur auf seine Versklavung sinnen. Nun da ihr erkannt habt, dass ihr frei in euren Erwägungen seid, beantrage ich, gegen die angezeigten Mitglieder Anklage zu erheben.«
Robespierre vergräbt den Kopf in den Händen. Angesichts des unsäglichen Unsinns, den der Heilige gerade von sich gegeben hat – kann es sein, dass er lacht? Oder holt ihn sein Leiden wieder ein? Niemand wagt zu fragen. Aus jeder Krankheitsphase scheint er sonderbar gestärkt hervorzugehen.
Manon Roland saß einen vollen Tag wartend im Vorzimmer des Präsidenten, ein schwarzes Umschlagtuch um Kopf und Schultern. Vergniaud überbrachte ihr stündlich neue Hiobsbotschaften. Sie hatte einen Appell an den Konvent verfasst, den sie persönlich vorzutragen wünschte, aber sooft die Tür aufging, brandete nur grässliches Getöse zu ihr heraus. Vergniaud sagte: »Sie sehen ja selbst, wie es steht. Niemand kann zu den Abgeordneten sprechen, solange ein solcher Tumult herrscht. Sie als Frau können vielleicht mit etwas mehr Respekt rechnen, aber offen gesagt …« Er schüttelte den Kopf.
Sie wartete. Als er das nächste Mal kam, sagte er: »In anderthalb Stunden vielleicht, aber versprechen kann ich es nicht. Und ich kann mich auch nicht dafür verbürgen, was für einen Empfang man Ihnen bereiten wird.«
Noch anderthalb Stunden? Sie war schon viel zu lange von zu Hause fort. Sie wusste nicht, wo ihr Mann war. Trotzdem – sie wartete schon den ganzen Tag, da konnte sie auch noch länger warten, es zum Abschluss bringen. »Ich fürchte mich nicht, Vergniaud. Vielleicht kann ich ein paar Dinge sagen, die kein anderer von uns sagen kann. Sagen Sie unseren Freunden Bescheid«, sagte sie. »Sie sollen sich zu meiner Unterstützung bereithalten.«
»Die wenigsten von ihnen sind hier, Manon.«
Sie starrte ihn an. »Wo sind sie dann?«
Er zuckte die Achseln. »Unsere Freunde haben Meinungen. Aber ich fürchte, sie haben kein Stehvermögen.«
Sie gab auf, nahm eine Droschke zu Louvet. Er war nicht da. Sie nahm eine nächste Droschke – nach Hause. Die Straßen waren verstopft, der Wagen kam nur im Schritttempo vorwärts. Sie befahl dem Kutscher anzuhalten. Sie stieg aus, gab ihm seinen Lohn. Sie ging zu Fuß weiter, hastig, atemlos, das dunkle Tuch vors Gesicht gezogen wie eine Ehebrecherin in einem Roman, die zu ihrem Geliebten eilt.
Am Tor fasste der Concierge sie beim Arm: Monsieur habe abgeschlossen, er sei beim Hauswirt, gleich dort ums Eck. Sie schlug an die Tür. Roland ist schon wieder gegangen, sagte man ihr. Wohin? Nach nebenan. »Madame, rasten Sie doch ein wenig, ihm geht es gut, trinken Sie ein Glas Wein.«
Sie setzte sich vor dem leeren Kamin nieder; es war schon Juni, ein schöner, stiller, lauer Abend. Man holte ihr ein Glas Wein. »Zu stark« sagte sie, »verdünnen Sie ihn mir.« Aber ihr drehte sich trotzdem der Kopf.
Er war auch nicht im Nachbarhaus, aber ein Haus weiter fand sie ihn. Er lief im Zimmer auf und ab. Das überraschte sie; sie hatte sich seine lange, knochige Gestalt im Sessel zusammengesunken vorgestellt, hustend, hustend. »Manon«, sagte er, »wir müssen hier fort. Hör zu, ich habe Freunde, ich habe Pläne. Wir verlassen diese gottverfluchte
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