Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
hatte, um nicht so leicht abgewiesen werden zu können. Mitternacht war längst vorbei, als er ankam.
»Wo in aller Welt hast du so lange gesteckt?«, fragte de Viefville.
»Beim Herzog von Biron. Und dem Grafen von Genlis«, nuschelte Camille.
»Ja dann «, sagte de Viefville. Er war verärgert, weil er nicht wusste, ob er ihm glauben sollte oder nicht. Und sie waren nicht allein, sodass ihnen nicht einmal ein ordentlicher Streit deswegen vergönnt war.
Ein junger Mann erhob sich von seinem Platz auf der Ofenbank. »Ich verlasse Sie, M. de Viefville. Aber denken Sie bitte über meinen Vorschlag nach.«
De Viefville machte keine Anstalten, die zwei einander vorzustellen. Der junge Mann sagte zu Camille: »Ich heiße Barnave, möglicherweise haben Sie ja von mir gehört.«
»Alle haben von Ihnen gehört!«
»Vielleicht halten Sie mich für einen bloßen Unruhestifter. Ich hoffe beweisen zu können, dass ich mehr bin als das. Gute Nacht, die Herren.«
Leise zog er die Tür hinter sich zu. Camille wäre ihm gern nachgelaufen, hätte ihm alle möglichen Fragen gestellt, ihre Bekanntschaft vertieft, aber für einen Tag hatte er schon mehr als genug Ehrfurcht aufbringen müssen. Dieser Barnave war der Mann, der in der Dauphiné Widerstand gegen die königlichen Erlasse aufgerührt hatte. Den Tiger, so nannte man ihn – in sanftem Spott, wie Camille nun erkannte, als er den unscheinbaren, freundlichen, stupsnäsigen jungen Anwalt vor sich sah.
»Was ist?«, fragte de Viefville. »Enttäuscht? Nicht, was du dir erwartet hast?«
»Was wollte er von dir?«
»Meine Unterstützung. Wobei er nur eine Viertelstunde für mich erübrigen konnte, und das nach Mitternacht.«
»Das heißt, du bist beleidigt?«
»Du wirst sie ja morgen alle erleben, wie sie sich gegenseitig auszustechen versuchen. Sie sind doch alle nur auf ihren Vorteil aus, wenn du mich fragst.«
»Sind deine engstirnigen Provinzleransichten denn durch gar nichts zu erschüttern?«, fragte Camille. »Du bist schlimmer als mein Vater.«
»Camille, wenn ich dein Vater wäre, hätte ich dir schon vor Jahren deinen blödsinnigen kleinen Hals gebrochen.«
Im Palast und überall in der Stadt begannen die Uhren in klagendem Gleichklang eins zu schlagen; de Viefville drehte sich um und ging aus dem Zimmer, zu Bett. Camille zog den Entwurf seines Pamphlets »La France Libre« hervor. Er las jede Seite durch, riss sie in zwei Teile, warf sie ins Feuer. Sie waren von der Wirklichkeit überholt worden. Nächste Woche, deo volente nächsten Monat, würde er sie neu schreiben. In den Kaminflammen sah er sich selbst beim Schreiben, sah die Feder, die übers Papier jagte, seine Hand, die das Haar aus seiner Stirn zurückstrich. Als das Rumpeln des Verkehrs unter dem Fenster verstummte, rollte er sich in einem Sessel zusammen und schlief neben dem verlöschenden Feuer ein. Um fünf zwängte sich das Licht zwischen den Ladenritzen hindurch, der erste Karren rollte mit seiner Fracht dunklen, sauren Brots zum Marktplatz von Versailles. Er erwachte, sah in dem fremden Zimmer umher, und Furcht kroch durch ihn wie eine langsame, kalte Flamme.
Der Kammerdiener – der weniger einem Kammerdiener glich als einem Leibwächter – fragte: »Haben Sie das geschrieben?«
In der Hand hielt er ein Exemplar von Camilles erstem Pamphlet, »Eine Philosophie für das französische Volk«. Er schwenkte es, als wäre es eine Vorladung.
Camille wich zurück. Bereits jetzt um acht war Mirabeaus Vorzimmer überfüllt. Ganz Versailles wollte eine Audienz bei ihm, ganz Paris. Er fühlte sich klein, unbedeutend, niedergewalzt von dem aggressiven Gebaren des Mannes. »Ja«, sagte er, »mein Name steht auf dem Deckblatt.«
»Gütiger Himmel, der Comte hat Sie schon gesucht.« Der Diener nahm ihn beim Arm. »Kommen Sie.«
Nichts war bisher leicht gewesen; er konnte nicht glauben, dass dies nun leicht sein würde. Der Comte de Mirabeau war in ein karmesinrotes Seidennegligee antiken Zuschnitts gehüllt – ein Faltenwurf wie von der Hand eines Bildhauers. Sein unrasiertes Gesicht glitzerte schweißig; es war pockenvernarbt und hatte die Farbe von Fensterkitt.
»Habe ich meinen Philosophen endlich!«, sagte er. »Teutch, bring mir einen Kaffee.« Er wandte sich um, demonstrativ. »Kommen Sie her.« Camille zögerte. Mit Netz und Dreizack wäre ihm wohler gewesen. »Sie sollen herkommen«, sagte der Comte scharf. »Ich tue Ihnen nichts.« Er gähnte. »Zumindest nicht um diese Uhrzeit.«
Der
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