Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
sich der Abbé, während er ihnen den Weg bahnte. »Wir waren zusammen auf der Schule.«
»Ja, aber damals warst du immer ganz blau vor Kälte.«
»Ich habe dich sofort erkannt. Du hast dich kein bisschen verändert, du siehst aus wie neunzehn.«
»Bist du fromm geworden, de Bourville?«
»Nicht allzu sehr. Siehst du manchmal Louis Suleau?«
»Nie. Aber er wird schon wieder auftauchen.«
Sie wandten den Blick wieder der Prozession zu. Einen Moment lang packte ihn die irrationale Gewissheit, dass er, Camille Desmoulins, all dies herbeigeführt hatte, dass sich die Stände auf sein Geheiß in Marsch gesetzt hatten, dass ganz Paris, ganz Versailles allein auf ihn sah.
»Da ist Orleáns.« De Bourville zog ihn am Arm. »Schau, er reiht sich in den Dritten Stand ein. Schau, wie der Zeremonienmeister auf ihn einredet. Er ist völlig schweißgebadet. Schau, da ist der Herzog von Biron.«
»Ja, ja, ich kenne ihn. Ich war schon bei ihm zu Hause.«
»Das ist Lafayette.« Der Held von Amerika schritt flott aus in seinem silbernen Wams, sein bleiches junges Gesicht ernst und eine Spur abwesend, sein seltsam spitzer Kopf verborgen unter einem Dreispitz im Stil Henri IV . »Kennst du den auch?«
»Nur vom Hörensagen«, murmelte Camille. »Potaufeu à la Washington.«
Bourville lachte. »Das solltest du aufschreiben.«
»Hab ich schon.«
In der Kathedrale hatte de Robespierre einen guten Platz gleich am Gang ergattert. Einen guten Platz, um während der Predigt hin und her zu rutschen, einen guten Platz, um der Prozession der Mächtigen nahe zu sein. So nah: Das wogende Bischofsmeer teilte sich einen Herzschlag lang, und zwischen violetten Soutanen und Batistärmeln sah ihm unversehens der König ins Gesicht – der König, feist in Goldbrokat –, und als die Königin den Kopf wandte (schon zum zweiten Mal aus dieser Nähe, Madame!), schienen die Reiherfedern in ihrem Haar ihm artig zuzunicken. Die Hostie in ihrer juwelenbesetzten Monstranz war eine kleine Sonne, die in den bischöflichen Händen funkelte. Der Samtbaldachin der Empore, auf der sie Platz nahmen, war mit goldenen Lilien bestickt. Dann der Chor:
O salutaris hostia
Wenn du die Kronjuwelen verkaufen dürftest, was könntest du Frankreich damit erkaufen?
Quae coeli pandis ostium,
Der König sieht aus, als schliefe er halb.
Bella premunt hostilia
Die Königin schaut sehr stolz drein.
Da robur, fer auxilium.
Sehr habsburgisch.
Uni trinoque Domino
Madame Defizit.
Sit sempiterna gloria,
Draußen haben die Weiber Orléans zugejubelt.
Qui vitam sine termino,
Hier ist niemand, den ich kenne.
Nobis donet in patria.
Camille könnte da sein. Irgendwo.
Amen.
»Da, da!« Camille stieß de Bourville an. »Maximilien!«
»Tatsächlich. Unser lieber Dingsda. Eigentlich keine Überraschung, wenn man’s genau nimmt.«
»Ich sollte dort mitgehen. In dieser Prozession. De Robespierre ist mir intellektuell unterlegen.«
»Was?« Der Abbé drehte sich verblüfft zu ihm. Dann brach er in Lachen aus. »Louis XVI von Gottes Gnaden ist dir ebenfalls intellektuell unterlegen. Wie im Zweifel auch unser Heiliger Vater der Papst. Was außer einem Abgeordneten möchtest du denn noch alles sein?« Camille gab keine Antwort. »Ach herrje!« Der Abbé tat so, als müsste er sich die Augen wischen.
»Da ist Mirabeau«, sagte Camille. »Er gründet eine neue Zeitung. Ich werde für sie schreiben.«
»Wie hast du das denn gedeichselt?«
»Noch gar nicht. Das kommt morgen.«
De Bourville sah ihn von der Seite an. Camille ist ein Lügner, dachte er, er war immer schon einer. Nein, das ist zu hart, sagen wir, ein Träumer. »Na, dann viel Glück«, sagte er. »Hast du gesehen, was für einen Empfang sie der Königin bereitet haben? Unschön, hm? Aber Orléans haben sie zugejubelt. Und Lafayette. Und Mirabeau.«
Und d’Anton, ergänzte Camille – mit unterdrückter Stimme, einfach um den Klang auszuprobieren. D’Anton hatte einen wichtigen Fall in Arbeit, nicht einmal zum Zusehen kam er. Und Desmoulins, fügte er hinzu. Bei Desmoulins haben sie am allermeisten gejubelt. Er spürte ein kleines, melancholisches Ziehen dabei.
Es hatte die Nacht durchgeregnet. Zu Beginn der Prozession, gegen zehn Uhr, hatten die Straßen in der Morgensonne gedampft, aber schon mittags war der Boden wieder heiß und trocken.
Camille hatte sich ein Nachtquartier bei seinem Vetter, dem Abgeordneten, gesichert – ein Gefallen, um den er ihn wohlweislich im Beisein mehrerer anderer ersucht
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