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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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beim Betrachten eines x-beliebigen Pferdes im Stall. Er ließ sich auf der Manegenumrandung nieder und verfolgte, auch wieder ohne eine Miene zu verziehen, wie Britta sich mit Bällen und Keulen abmühte. Und wenn sie hoffte, er werde sie am Ende mit einem Lob bedenken, und sei es mit einem klitzekleinen, so hoffte sie vergeblich, Devantier nämlich erhob sich ächzend, brummte, das einzige, was er heute in seinem Zirkus noch leuchten sehen wolle, sei das Lagerfeuer, und stapfte aus dem Zelt.
    *
    Britta mußte sich nach dem Vorfall erst einmal beruhigen, darum begab sie sich nicht zum Lagerfeuer, wo es hoch herging und sie kaum zur Besinnung kommen würde, sondern setzte sich in ihren Wagen und schrieb einen Brief an Catherine; recht lang wurde der, ein Wort ergab das andere, so schrieb sie sich Zeile für Zeile in den Schlaf.
    »Trinchen«, begann sie, »eben hat mich der Direktor Devantier zusammengeschissen. Ganz vulgär hat er herumgeschrien, nur weil ich in der Manege das Licht anhatte. Aber ich habe ihn sozusagen gezähmt. Ich habe ihm verdeutlicht, daß er so nicht mit mir umspringen kann und daß ich keine Angst vor ihm habe. Die meisten hier, muß man leider sagen, haben große Angst vor ihm, richtigen Schiß. Und das ist auch kein Wunder, denn er kann wirklich furchtbar ungerecht sein. Aber gleichzeitig hält er denen, die er mag, ein Leben lang die Treue und beschützt sie. Im Grunde ist er ein wandelnder Widerspruch.
    Trinchen, na, ich merke schon, damit wirst Du nichts anfangen können, weil es zu allgemein ist. Also paß auf, spezieller: Mein jähzorniger Direktor ist der Sproß einer jahrhundertealten Zirkusfamilie, die aus der französischsprachigen Schweiz stammt. Sein Vater Nicolas war vor dem Ersten Weltkrieg ein sogenannter Todesspringer – o nein, ich habe ›sogenannt‹ geschrieben. Erinnerst Du Dich, die Werth, wie sie auf die Palme gegangen ist wegen dieses Wortes und gesagt hat, es steht bei ihr auf dem Index, weil es ja immer nur verwendet wird, wenn man sich des Bezugswortes nicht sicher ist? Entweder stimmt das Bezugswort, dann kann es allein stehen, oder es stimmt nicht, dann muß man ein anderes finden. Na denn, fort mit dem ›sogenannt‹. Nicolas war Todesspringer, Todesspringer, Todesspringer! Das heißt, daß er, nur als Beispiel, auf einen elend hohen, schwankenden Mast geklettert und im freien Fall heruntergehechtet ist. Nach etwa 15, 20 Metern hängt da ein messergespickter Reifen herum, durch den muß er durch. Nun geht’s weitere 20 Meter in die Tiefe. Nicolas dreht noch eine Schraube oder was weiß ich, und am Ende landet er in einem vielleicht einen Quadratmeter kleinen Sandkasten, der mit lodernden Fackeln begrenzt ist. Wie Du Dir sicherlich vorstellen kannst, ging das nicht ohne Knochenbrüche, Sehnenrisse und Schnittwunden ab. Doch Nicolas war ein harter Hund. Einmal ist ihm bei einer mißglückten Landung die Kniescheibe herausgesprungen, und was hat er getan? ›Er hat‹, ich zitiere jetzt Richard, also meinen Direktor, ›seine Assistentin lächelnd gebeten, die Kniescheibe mit einem kräftigen Fußtritt wieder an den ihr von der Natur bestimmten Platz zurückzubefördern.‹
    Warte, Trinchen, es geht noch weiter, denk einmal, wer diese Assistentin war – seine Frau Therese. Auch sie war ein Zirkuskind. Auch sie überspielte Schmerzen mit einem Lächeln. Auch sie ertrug Unfälle mit einer stoischen Gelassenheit, jedenfalls nach außen hin, es ist ja alles immer nur nach außen hin. Denk einmal: Als Therese Richard gebar, besaß sie nur noch ein Auge. Das andere war ihr von einem fliegenden Teller herausgeschlagen worden, weil sie auf dem Seil beim Balancieren und Jonglieren einen kleinen Wackler hatte. Von da an trug sie über der leeren Höhle eine schwarze Stoffklappe, auf die eine bordeauxrote Rose gemalt war.
    Erscheint Dir das alles unglaublich? Es muß Dir so erscheinen. Und doch stimmt jede einzelne Begebenheit, ich habe Fotos gesehen. Aber jetzt, Trinchen, endlich zu Richard Devantier. Alles Bisherige war ja nur Vorrede, wenngleich eine nötige, denn was ich ausdrücken will, ist: Ein Kind solcher Eltern hat doch nur zwei Möglichkeiten – entweder, es wird genauso ungewöhnlich und rigoros wie sie, oder es wendet sich total von ihnen und von allem Extremen ab und führt ein unauffälliges Leben, eines, in dem es sozusagen verschwindet. Richard, Du ahnst es, wollte aber nicht verschwinden. Er baute schon als 17jähriger eine Dressur mit sibirischen Tigern

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