Brüder und Schwestern
sondern Luftballons, Luftabbon, schreit ein Kind, und die anderen Kinder, die heute auch erst viel später ins Bett müssen und schon auf ihn gewartet haben, reißen ihre Münder auf, in denen noch spinnwebzarte Rückstände von Zuckerwatte kleben, und lachen in Schwällen, fluten die Manege mit den Tonwellen, die ihnen aus ihren noch reinen Seelen fahren, und dann hat der Clown zu seinem eigenen Erschrecken und zum Ergötzen der Kinder der großen und kleinen sämtliche Luftabbons zum Platzen gebracht und watschelt, ganz vollgespritzt mit Zuneigung, ungelenk winkend wieder hinaus, und dann – dann steht plötzlich Britta da unten!
»Guck guck guck guck!« rief Erik. Bei jeder Wiederholung schnellte sein Kopf nach vorn, eine seltsam abgehackte Bewegung, die ans Zucken eines körnerpickenden Huhns erinnerte.
Matti stieß ihm einen Ellenbogen in die Rippen und beließ den dort, aber weißgott nicht, um seinem Bruder Einhalt zu gebieten, sondern nur, um ihm zuzustimmen, denn auch er traute ja seinen Augen nicht. Für Erik wiederum war es die zärtlichste Berührung, die sich denken läßt. Er drückte seinen Oberkörper gegen Mattis spitzen Knochen und genoß den Schmerz, der sich dabei einstellte.
Vergessen war in diesem Augenblick das Zähe der Begrüßung, und überhaupt alles Schwere und Finstere, nur eine Frage schwirrte ihnen, in verschiedenster Ausfertigung, jetzt noch durch den Kopf: Was macht Britta denn auf einmal da unten? Was sollen denn die goldfarbenen Ständer, einer mit Bällen drauf, einer mit Keulen, zwischen denen sie auf einmal steht? Das gibt’s ja wohl in keinem Russenfilm, will sie hier und jetzt wirklich und leibhaftig anfangen zu jonglieren?
Britta streckte ein Bein vor, drückte die Schultern durch und warf ihren Kopf in den Nacken. Sie schien die pure Selbstsicherheit zu sein. Aber je länger die beiden ihr zuschauten, um so mehr entpuppte sich das als Pose. Brittas Atem ging wie wild, sie bemerkten es an der Bewegung ihres Busens. Er hob und senkte sich so heftig, als wäre Britta, die doch noch gar nichts getan hatte, gerade 100 Meter auf Zeit gerannt. Wobei jener Eindruck noch dadurch verstärkt wurde, daß ihr Busen in dem Kleid, das sie trug, viel praller wirkte, als er tatsächlich war. Überhaupt war dieses Kleid höllisch eng und verdammt kurz. Hellblau war es, mit silbernen Knöpfen, silbernem Saum und silbernem Kragen. Ihre Haare trug Britta offen; und das alles, die halbbloßen emporgehobenen Brüste und das Hellblau und das Silber und das schulterlange Blond, ausgestellt im Scheinwerferkegel, der wie ein übergroßes weißes Ei in der Manege lag, ergab eine ungewöhnliche Mischung aus Reinheit und Schamlosigkeit.
Auch im übrigen Publikum hielt man, obwohl doch ganz offenbar nur eine Jonglage bevorstand und nicht etwa eine gewagte Flugnummer oder eine gefährliche Dressur, den Atem an, so viel Zauber ging von Britta aus. Aber mußte nicht jede Besuchergruppe sich von etwas anderem verzaubert oder gebannt fühlen? Die Kinder erkannten in diesem Mädchen bestimmt eine Märchenprinzessin. Die Väter stellten sich vor, sein Kleid würde reißen, und genossen, was dann erst alles sichtbar würde. Die Mütter wiederum schluckten verdrießlich über Brittas Freizügigkeit, eigentlich aber über die geheimen Wünsche ihrer Männer, die sie sehr wohl erahnten, und noch viel eigentlicher darüber, nichts von dem, was ihnen gerade vorgeführt wurde und was sie so verachteten, zu besitzen. Genau darum verachteten sie es ja.
Und einer im großen weiten Chapiteau, einer hatte alles das durchaus vorhergesehen. Zumindest hatte er darauf spekuliert. Darauf angelegt hatte er’s doch! Er stand in diesem Moment breitbeinig und mittig hinter dem schweren weinroten Vorhang, der Manege und Kulissen trennte, hielt ihn mit seinen beiden Pranken leicht gerafft, steckte seine alte porige Nase hindurch und lugte fast vergnügt ins Rund. Er spürte die Erregtheit des Publikums und genoß sie. Schon lange nicht mehr war er so guter Dinge gewesen. Weiter, feuerte er Britta im stillen an, genau so, Mädel, so und nicht anders!
*
Richard Devantier. Unmittelbar nach der Nachmittagsvorstellung, bei der Marty Handy zum wiederholten Male durch fürchterliche Patzer aufgefallen war, hatte er den Entschluß gefaßt, Marty durch Britta zu ersetzen. Allerdings behielt er diesen Entschluß zunächst für sich.
Devantier verkündete ihn erst, nachdem er mit der Glocke alle Mitarbeiter zur Abendaufführung
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