Brüder und Schwestern
und verlieh ihm wiederum noch mehr Bestimmtheit.
Als ob der Zopfträger Veronikas kleiner Darbietung hier auf den abgeschabten, knarrenden Holzbohlen des alten Treppenflures selber eine Szene hinzufügen wolle, ergriff er ihre ausgestreckte Hand behutsam mit seinen Fingerspitzen, neigte seinen Kopf und hauchte ihr einen Kuß entgegen. Er richtete sich wieder auf und sagte ernst: »Markus Fresenius.«
Jetzt nannte Veronika weihevoll ihren Namen. Sie begann zu kichern und rief: »Ach Willy, hier wird es schön, glaubst du nicht?«
Willy ging nicht auf ihre Frage ein, sondern runzelte die Stirn, er fand wohl, die Aufführung sollte jetzt enden, und die wirklich wichtigen Dinge sollten zur Sprache kommen. »Sagen Sie mal, wenn sich niemand daran stört – wer wohnt dann eigentlich hier?«
Markus Fresenius nickte und ließ sie wissen, daß sie bei weitem nicht die ersten waren, die sich hier auf handfeste Weise Zutritt verschafft hatten. Fresenius selber, Student der Biologie, war ganz ähnlich vorgegangen und jeder andere Bewohner auch, ausgenommen der alteingesessene Januschke, vormals Hausmeister, sie fänden ihn, dies für den Fall, sie brauchten einmal handwerkliche Hilfe, Parterre rechts, aber sonst, nein, alles inoffiziell, denn dieses Schmuckstück hier, erklärte Fresenius mit verächtlichem Gesichtsausdruck, sei von behördlicher Seite längst aufgegeben worden, schon ewig habe sich niemand vom Amt mehr blicken lassen, zweifelsohne fliehe man den peinlichen Anblick der Verrottung im eigenen Verantwortungsbereich.
Als der Student geendet hatte, entstand eine Pause. Schnell sagte dann Veronika, er wolle bestimmt auch ein bißchen was über sie beide wissen, da sie ja nun die neuesten Mieter, sie verbesserte sich, die neuesten Nichtmieter seien, und hierbei wurde sie tatsächlich ein wenig rot.
Markus Fresenius’ Blick streifte wie zufällig ihre und Willys Hände mit den recht unterschiedlichen Eheringen. Lächelnd deutete er an, das Wichtigste über sie beide sei ihm doch schon bekannt. Indes war es kein anzügliches Lächeln, eher noch einmal ein Willkommen, und das bekräftigte er, indem er mit einem kurzen Kinnrecken auf die Wohnung wies, die sie sich geöffnet hatten, und in nahezu väterlichem Ton sagte: »Nun gehen Sie schon, gehen Sie.«
*
Das war jetzt drei Jahre her. Willy und Veronika hatten sich seitdem jeden zweiten Dienstag, immer nach den Sitzungen, die Zeiller mit den Direktoren der Druckereien abhielt, in der Dunckerstraße getroffen; und in all der Zeit waren sie weit davon entfernt gewesen, jemals die Hilfe des alten Januschke in Anspruch zu nehmen. Weil sie ja die Wohnung weitgehend so beließen, wie sie sie vorgefunden hatten. Sie rissen zwar die alte Tapete im großen Zimmer herunter, eine Tapete, die mit lauter Schlingpflanzen bedruckt war, so daß Willy und Veronika sich beim ersten Eintreten wie im Urwald wähnten und eine Feuchte zu spüren glaubten, die es hier, anders als in vielen anderen Häusern der Gegend, durch die sie zuvor gestreift waren, glücklicherweise gar nicht gab – aber sie klebten dann nichts Neues an die kahlen Wände, bestrichen sie auch nicht, nagelten nur ein paar Bilder eines Fotografen an, den Veronika kannte, weil er einmal im Labor des »Metropolenverlages« gearbeitet hatte. Und auch diese Bilder, schwarzweiße, grobkörnige, boten überhaupt keinen schönen Anblick. Sie verstärkten bloß den Eindruck von Tristesse: Ein Losverkäufer, der mit seinen wurstigen Fingern gelangweilt aufs Sprelacart seines Standes trommelt. Sechs Jungs beim Umheben eines offenbar nicht mehr fahrtüchtigen Trabant aus dem Parkverbot. Konnopkes Imbißbude am frühen Morgen, davor ein Pärchen mit viel Luft zwischen sich, die Schultern hochgezogen, die Hände an Tassen mit heißer Brühe wärmend. Alles Bilder von hier. »Der Fotograf«, erklärte Veronika, als sie mit den Abzügen erschien, »wohnt um die Ecke. Er hat den Aktionsradius eines Bierdeckels. Er ist auch ein Säufer übrigens. Er wird sich nochmal zu Tode saufen.« Willy nickte. Und das war schon alles, was sie über ihren Wandschmuck austauschten. Sie konnten und wollten sich nicht lang und breit erklären, warum der nun da hing; Willy hatte, wenn er, selten genug, eines der Bilder anschaute, das Gefühl von Schmutz, in dem auch Klarheit liegt, von Dreck, aus dem auch Anstand schimmert, noch einmal, er konnte es nicht benennen, aber alles, was er sah oder auch nur um sich wußte, die wenigen trostlosen Bilder,
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