Brüder und Schwestern
dachte Karin Werth dieser Statik wegen.
Sie fand sich schon gegen 20 Uhr in der Scheune ein. Sie trug ihre Haare geknotet, keine Strähne sollte ihr ins Gesicht fallen und ihr das Handeln erschweren; der Knoten aber verlieh ihr etwas Strenges und auch Slawisches, denn jetzt, da keine Haare sie rahmten, wurde sichtbar, welch hohe Wangenknochen sie hatte.
Unter den Knochen zuckte es, als sie Heiner Jagielka begrüßte, der gerade dabei war, purpurne Astern in mit nasser Watte ausgelegten Kisten zu verstauen. Solange, wie sie den Weg hier heraufgelaufen war, hatte sie kaum Nervosität verspürt; das war vielleicht wegen der Achtsamkeit, die sie hatte aufbringen müssen, um nicht zu stolpern, oder wegen der Bewegung als solcher. Und nun stand sie da und wußte nicht, wohin mit sich. Es bestürzte sie auch, wie der Ort sich ihr jetzt zeigte. Die blendende Helligkeit der Peitschenlampen, das harte Rascheln der Sprenkleranlage, der modrige Geruch der Blumenerdesuppe, das alles bündelte sich zu etwas Bedrohlichem. In ihr blitzte sogar das Wort »Straflager« auf, und sie begann heftig zu atmen. Jagielka bemerkte es. Er unterbrach seine Packerei, ging zu dem Spind, holte eine Flasche, auf der »Tallisker« stand, und hielt sie ihr hin. Sie fragte, was das sei, sie war nicht in der Lage, das Kleingedruckte zu lesen, ihr Blick war zu unstet dafür. Sie erfuhr, es handele sich um Whisky, um exzellenten, wie Jagielka ausdrücklich hinzufügte. Sie lehnte ab. »Was anderes?« Nein, sie wollte klaren Kopf bewahren, sie fragte Jagielka, ob sie ihm nicht irgendwie helfen könne. Er führte sie zu Kartons mit länglichen Watteformationen und hieß sie, die Watte zu tränken und in die noch leeren Kisten zu legen. Er erntete jetzt weiße Nelken, hob entschuldigend die Schultern, sagte, das ließe sich nicht vermeiden, wenigstens seien es keine roten. Sie lachte kurz und eine Spur zu schrill: »Ist doch alles unwichtig jetzt.« – »Wirklich?« – »Wirklich.« Sie staunte über Jagielkas Fürsorge. Sie spürte, er war in ihrem Banne, aber sie wollte und konnte sich nicht in ihn hineinversetzen. Alle Watte war nun ausgelegt. Jagielka stapelte die Kisten. Sie schaute ihm zu, schon wieder zuckten ihre Wangen. Er unterbrach seine Arbeit, trat zu ihr hin, fuhr ihr mit der Oberseite des Zeigefingers über die Wange und flüsterte, »ruhig, Mädchen, keine Bange«. Wußte sie, daß er heldenhaft mit sich kämpfte, um sie nicht an sich zu pressen? Sie war ihm einfach nur dankbar, sie scheute sich nicht länger, auszustoßen: »O mein Gott, ich komme gleich um vor Angst.« Viel zu früh öffnete sie die Tür des am nächsten beim Eingang stehenden Spindes, den er verabredungsgemäß für sie freigeräumt hatte. Jagielka warnte, sie werde ersticken, wenn sie jetzt schon da hineinsteige. Unvermittelt fragte sie ihn, warum er nicht auch abhaue. Jagielka antwortete, weil ein König nicht von einem Reich ins andere wechseln könne, ohne seine Krone zu verlieren. Für einen Moment sehnte sie sich nach einem Antrieb, wie er ihn hatte, dann verlor sich das wieder, und Jagielka erschien ihr fremd wie zu Beginn ihrer Bekanntschaft. Sie nahm sich, um nur irgendwas zu tun, einen Klappstuhl und setzte sich rittlings darauf, da saß sie nun, und ebenso plötzlich, wie sie ihre Frage gestellt und wie sie nach dem Stuhl gegriffen hatte, begann sie, zitternd, eine Melodie zu summen. Was das für ein Lied sei, erkundigte sich Jagielka. – Ännchen von Tharau. – Das sei ihm kein Begriff. – Das mache nichts, ihr wäre es womöglich auch keiner, doch habe es ihre Großmutter immer gesungen, daher kenne sie es. Sie begann zu weinen, Karin Werth, vielleicht, weil ihre Großmutter nicht mehr lebte, oder weil sie sie gerade verließ, oder weil sie jetzt zu ihr fuhr, Jagielka wußte es nicht, und er war auch so lieb, nicht zu fragen. Er schaute auf seine Uhr und nickte ihr zu, sie lief zu dem Spind und verabschiedete sich – sie mußte sich doch jetzt schon von ihm verabschieden, denn später würde keine Zeit mehr sein – mit den Worten: »Es soll Ihnen gutgehen immer.« »Und Ihnen erst«, gab er mit wehmütigem Blick zurück.
Sie hörte all die Geräusche, die von einem regulären Fortgang des Geschehens kündeten, das Brummen und Abstellen des Motors, das Klatschen und Ratschen der einzelnen, von Jagielka auf der Ladefläche abgestellten und nach hinten geschobenen Kisten, sein verhaltenes Keuchen. Sie vernahm durch die dünne Tür sogar das Schnippen
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