Brüder und Schwestern
sprechen. Sie werden den Prozeß unseres stummen Sterbens aufhalten, Herr Karandasch, allein durch Ihre Anwesenheit.«
Ich winkte verdrossen ab, war ich doch nicht auf die Insel gekommen, um auch noch die Wachen aufleben zu lassen. Wenig später freilich wurde mir bewußt, worin der wahre Grund für meine Verdrossenheit lag: Darin, daß die Umstände hier auf eine gänzlich unvorhergesehene Art niederdrückend waren. Gewiß, ich hatte Beklemmendes erwartet. Düstere Mauern, enge Gänge, schneidige Wachen. Statt dessen verhielt sich Vestis wie ein geschlagener Hund, der danach lechzte, gestreichelt zu werden, während das Areal innerhalb des schwarzen geteerten Bretterdreiecks mir großzügig bemessen schien. Mit seinen Hügeln und seinem Grün erinnerte es mich an eine Vorgebirgslandschaft. Die länglichen einstöckigen Bauten waren wie wahllos darin eingebettet, Schornsteine rauchten auf die gemütlichste Weise, Katzen schlichen und sprangen herum. Auf den ersten Blick schien mir das ein Dörflein zu sein, wie es im Reich Tausende gab und gibt. Nur an Kleinigkeiten vermochte ich dann die schreckliche Wahrheit abzulesen. Die vergitterten Fenster einiger, nicht aller Gebäude waren vollständig mit schwarzer Farbe bestrichen, und auf dem Dach eines Hauses prangte anstatt eines Wetterhahns die gleiche blitzende Sichel in Form des abnehmenden Mondes, die bei Hinrichtungen dazu diente, den Verurteilten den Kopf abzutrennen. Jene scharfe stählerne Mondsichel, sie war damals das Zeichen unabänderlich verschwindenden Lebens; der Oberste hatte es sogar geschafft, den Menschen höllische Angst vor dem wahren fernen, ungefährlichen Himmelskörper zu machen: Sie senkten ihre Blicke, sobald die Periode des Vollmondes vorbei war, und hielten sie nächtelang gesenkt.
Ich zeigte auf jenes so finster geschmückte Haus und fragte Vestis, ob dort Antonio einsitze. Vestis nickte. Wenn es denn eines letzten Beweises dafür bedurft hätte, welche Absichten der Oberste bezüglich Antonio hegte, so lag dieser nun vor.
»Was auch immer ich hier tue, es ist vollkommen sinnlos«, murmelte ich.
Da überraschte der mir so devot erschienene Vestis mich mit einer flammenden Einrede. »Erlauben Sie mir, Ihnen zu widersprechen, verehrter Herr Magister Karandasch«, hob er an, und mir war im ersten Augenblick, als läge in seiner gedrechselten Anrede einige Ironie. Wie ich dann aber Vestis’ aufmerksamem und ehrlichem Gesichtsausdruck entnahm, hatte ich geirrt. Vestis hatte tatsächlich aus Respekt so zu sprechen begonnen. »Was auch immer Sie hier tun«, erklärte er, »es wird meiner Meinung nach ganz und gar nicht sinnlos sein. Sie haben das baldige Lebensende des jungen Herrn vor Augen? Dann wäre es, wieder nur meiner Meinung nach, angemessen, sich besonders zu mühen und in der kurzen Zeitspanne, die bleiben mag, ihn so viel wie möglich zu lehren und auch ausgiebig zu erfreuen. Denn nur weil wir meinen, sein Leben ende sowieso bald, haben wir doch nicht das Recht, untätig zu bleiben. Wir blieben ja auch nicht untätig, wenn sein Ende noch lange hin, sein Schicksal vollkommen offen wäre, nicht wahr? Dann würden Sie ihn doch ohne Unterlaß lehren und wappnen für alles, was noch käme. Und nun kommt nichts mehr? Ungeachtet dessen, daß man das nie so genau wissen kann und der Tod womöglich viel länger auf sich warten läßt, als wir heute annehmen: Noch lebt der junge Herr! Noch ist die Sichel nur eine Drohung, nur ein aufs Dach gestecktes Stück Metall! Und solange er lebt, hat er es auch verdient, wie ein Lebender und nicht wie ein Sterbender und schon gar nicht wie ein Toter behandelt zu werden. Ich beschwöre Sie, Herr Karandasch! Lehren Sie ihn, hören Sie, Sie müssen ihn lehren, als sei er Ihr Meisterschüler, der beste und wichtigste, der je vor Ihnen saß!«
Ich erinnere mich, mit meinen Händen vor Scham den Stoff meiner Manteltaschen geknüllt zu haben. Vestis hatte recht. Es war falsch und vor allem schwach von mir, müde an die Aufgabe heranzugehen. Im nachhinein erwies es sich als Segen, daß er sich ein Herz gefaßt und so eindringlich auf mich eingeredet hatte, denn schon um diesen einfachen und doch gescheiten Mann nicht zu enttäuschen, schwor ich mir, mich Antonio gegenüber, so verloren er auf mich auch wirken würde, in jeder Sekunde geduldig und aufmunternd zu zeigen.
Wir betraten das Haus der blitzenden Sichel. Es war innen weiß gekalkt. Ich sah einen langen Gang, auf den rechterhand durch große Fenster
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