Brüder und Schwestern
diesbezüglich nicht den geringsten Glauben schenkte, unvermeidlich eine Hausdurchsuchung, während der man aber nichts fand. Lange Zeit beließ ich, um mich nicht zu gefährden, die Münze in ihrem Versteck, doch von dem Tag an, da der Oberste mich zu sich gerufen hatte, um mich auf die Insel zu befehlen, holte ich sie immer wieder hervor, besah mir den kleinen Antonio und malte mir aus, wie sich die nun schon sechs Jahre währende Haft in seine reinen Züge gegraben haben mochte. Ich stellte mir tiefe Furchen, eitrige Beulen, dunkle Augenhöhlen, geplatzte Lippen und faulige Zähne vor. Zuweilen erblickte ich sogar einen Satyr; mal war es ein Eselskopf auf dürren weißen Knabenbeinen, mal ein speckiges Schwein mit Antonios mattem, wie verloschenem Antlitz, mal ein knorpeliger Drachenkörper, auf dem der ins Unendliche vergrößerte, violett verfärbte Schädel des Jungen saß. Und je öfter sich Antonio mir dergestalt zeigte, um so deutlicher spürte ich, wie in mir Befangenheit und sogar Angst ihm gegenüber aufstiegen. Mehr noch, in den letzten Tagen war es zu einem Zwang und fast zu einem Wahn geworden, daß ich mir die grausamsten Bilder des an Leib und Seele deformierten Antonio heraufbeschwor und zugleich mich selber beobachtete, wie ich voller Furcht, dies abscheuliche Wesen werde mich anspringen, erstmals seine Zellentür öffnete. Insofern, ich komme auf die todbringenden Leuchter zurück, war es mir lieber, mich jetzt vor ihnen zu fürchten. Die Gefährdung, die von ihnen ausging, setzte mich in die Lage, in den letzten Sekunden vor dem Eintreten nicht an Antonio denken zu müssen und ihm mit einem kärglichen Rest von Unbedarftheit zu begegnen.
*
Die »Barby« hatte gerade das Haff verlassen, als sich Langhammer, Mattis Kollege von der »Schönebeck«, per Funk meldete. Matti nahm das klobige Sprechgerät aus der abgewetzten Lederschlaufe, die von der Steuerhausdecke baumelte, wo sie eigentlich nicht hingehörte. Genaugenommen gehörte sie überhaupt nicht auf dieses Schiff, sondern in eine Berliner Straßenbahn. Dort war sie einmal ein rechtschaffener Haltegriff gewesen, aber nur bis zu der Minute im Anschluß an ein Union-Spiel, in der Peter Schott sie geradezu verzückt, und ohne schon an irgendeine Wiederverwendung zu denken, aus ihrer Verankerung gerissen hatte (was, wie er Matti strahlend berichtete, der ohnehin überbordenden Stimmung im Wagen einen zusätzlichen Schub verliehen habe; er, Matti, möge doch mal mitkommen und sich auch dieser Stimmung hingeben).
»Ja, Matti hier, ich höre.«
»Die Zentrale sagt, ihr seid auf dem Weg nach EHS. Sind wir auch. Wollen den Abend im ›Interhotel‹ verbringen. Hoffen auf eure Anwesenheit.«
Matti verstand sich gut mit Langhammer und seinen Leuten, so antwortete er: »Werden uns bemühen. Von wo kommt ihr?«
»KWH.«
Königs Wusterhausen. »Dann seid ihr eher da. Haltet uns paar Plätze frei.«
Und schon war man also für heute in Eisenhüttenstadt verabredet.
Allerdings war das, was die Schiffer »Interhotel« nannten, in Wahrheit eine aus Brettern gezimmerte Spelunke inmitten einer Laubenkolonie. Die Stühle waren aus dunkler Eiche, die Tische aus Sprelacart. Über der Theke wiederum hing ein imposanter Kristallüster, den Rusch, der Wirt, von einem seiner Besuche auf polnischen Flohmärkten mitgebracht hatte. Da dieser Rusch ein großer, strammer Kerl war, das Gebäude aber ein recht niedriges, stieß er mit seinem Kopf des öfteren an die herunterbaumelnden Kristallteile des Lüsters, und ein leises Klingen und Singen ertönte. Zuweilen patschte auch ein Betrunkener nach dem Kristall, aber das konnte nur einer sein, der hier das erste Mal zu Gast war. Sogleich kriegte er es nämlich mit Rusch zu tun, und zeigte er sich dann auch nur eine Sekunde uneinsichtig, wurde er von dem vor die Tür expediert, genauer gesagt, vor eine der beiden Türen. Die vordere führte zum Hauptweg der Kolonie, die hintere zu einem Offenstall aus verblichenem Holz, in dem Ruschs Ziege lebte. Manchmal erfolgte gewissermaßen ein Bevölkerungsaustausch: Rusch warf einen Besoffenen, der sich an seinem wertvollsten Stück vergangen hatte, in den Stall, während die Ziege, als könne sie den Anblick und den Gestank des Ankömmlings nicht ertragen, sich langsam in den Gastraum aufmachte, wo sie stoisch vor der Theke stehenblieb und sich das Treiben der Gäste anschaute. Mit einem Wort, in diesem Etablissement paßte so gut wie nichts zusammen, aber gerade das war es ja,
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