Brüder und Schwestern
weitere Schilderung, da sie unweigerlich hinter der Wirklichkeit zurückbleiben muß. Nur noch soviel: In der Kürze lag die Würze! Schnell verabschiedete ich mich wieder von der Meerjungfrau (ich nenne sie bei mir weiter Meerjungfrau, obwohl sie sich ja eher in der Kaufhalle heimisch zu fühlen scheint), denn so gern ich mich länger in ihrem Netz verfangen hätte, die ›Barby‹ fuhr doch währenddessen weiter. Sie war schon nur noch ein kleiner Punkt auf dem Kanal. Nie hätte ich sie eingeholt, aber das Glück spielte mir noch einmal in die Hände. Wie schon gesagt, alles passierte ja am Kilometer 72, während einer Talfahrt. Nun, und ihr alle wißt aus langjähriger Erfahrung viel besser als ich, was talwärts bei Kilometer 78 steht: das Schiffshebewerk Niederfinow. Ich entdeckte es in der Ferne, als ich gerade loslief, und konnte nun relativ locker traben, denn mir war klar, daß mindestens eine Stunde vergehen würde, ehe man die ›Barby‹ dort abgefertigt hatte. Tatsächlich erreichte ich sie rechtzeitig, sogar noch auf ihrem Warteplatz, bevor sie in das Schiffshebewerk einfuhr. Es war mir dann auch ein leichtes, unbemerkt wieder an Bord zu gelangen. Ich wechselte schnell meine halbnassen Kleider und nahm meinen Dienst wieder auf, als wäre nichts geschehen.«
Als er geendet hatte, schaute Lehrling Zehner arglos. Der Maschinist Klopsteg war derart beeindruckt von dem Erzählten, daß er das erste Mal an diesem Abend, oder vielleicht sogar an diesem Tage, oder erstmals in der ganzen Woche, das Wort ergriff. »Und das ist alles wahr?« fragte er.
»Ja, das ist alles passiert«, bestätigte Zehner.
»Ditt hättste jerne«, rief Peter Schott.
Zehner aber behielt seine Linie bei und antwortete gelangweilt: »Ich hatte es.«
»Das einzige, was du hattest, waren nasse Hosen«, sagte Langhammer gutmütig.
»Du mußt es ja wissen«, sagte der kecke Lehrling.
»Ich weiß es auch, und kannst du dir vielleicht denken, woher? Natürlich nicht von der Meerjungfrau. Die ist leider nur eine Ausgeburt deiner Phantasie. Mitten im Erzählen hat sie sich eingestellt, nicht wahr? Na, jetzt schaust du, woher ich das so genau weiß. Ich sag’s dir: Weil du eher zerknirscht zu reden angefangen hast, erinnere dich selber. Es war ursprünglich keine Geschichte, die dir zur Ehre gereicht, das hast du zu Beginn erklärt. Ich bin mir sicher, du bist tatsächlich unfreiwillig über Bord gegangen. Du bist wahrscheinlich auch der ›Barby‹ nachgerannt und hast sie gerade noch erreicht, so weit, so wahr. Aber dieses Mädchen, na …«
Wie schon am Ende der traurigen Episode zuvor war es Matti, der allem eine ganz andere, fast feierliche Wendung gab. Er sagte zu Kevin Zehner: »Aber Respekt vor deiner Phantasie, man kann sich ihr richtig hingeben. Man hat alles, was du heraufbeschworen hast, deutlich vor Augen gesehen. Und das ist ja auch ein Glück, wenn sie plötzlich in einem auftaucht, nicht wahr? Oder vielleicht gar nicht plötzlich: Erst schimmert sie durch, dann wird sie immer stärker; es mag ein komischer Vergleich sein, aber ich denke, mit der Phantasie ist es so ähnlich wie mit einem Dieselmotor. Auch der muß sich erst freilaufen, auch der erreicht seine wahre Stärke erst dann, wenn man ihn lange in Gang hält. Man muß seine Phantasie in Gang halten, oder immer wieder anschalten, regelmäßig, das ist eine große Freude … denke ich mir.«
Matti hatte fast bis zum Ende leidenschaftlich und entschieden gesprochen – aber hatte er dann mit seinem kurzen und auch im Ton abfallenden Nachsatz nicht versucht, alles schnell ins Reich des Unsicheren und Eventuellen zu verweisen? Es war, als wolle er etwas verwischen, als wolle er davon ablenken, daß auch er sich so einigermaßen auszukennen schien in dieser seltsamen Materie, der Phantasie.
Indes blieb niemandem Zeit, darüber nachzudenken, denn schon ergriff wieder Billerbeck das Wort. »Apropos Frau und ins Wasser plumpsen«, rief er, »mir fällt da die Geschichte von Schlotzke und seinem Ring ein, kennt die vielleicht jemand? Nicht? Hehe, dann hört zu: Schlotzke gilt ja nicht gerade als Kostverächter, er hat, wie es so schön heißt, in jedem Hafen ’ne andere. Dabei ist er verheiratet. Gut. Einmal lernt er also wieder eine Dame kennen. Sie ist ganz süß und auch ziemlich weich. Er schleppt sie ab und dirigiert sie zum Hafen, er will mit ihr schnell in seine Kajüte. Aber plötzlich, direkt vor dem Schiff, bleibt sie stehen wie ein störrisches Pferd. Sie
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