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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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halbes Perlhuhn getan, von Vestis beschlagnahmt wurde. Mit einem Gesichtsausdruck, den ich noch heute nur als blöde bezeichnen kann und der, ich gebe es zu, mich anwiderte, sowie mit Armen, die ihm wulstig zwischen seinen Beinen hingen, saß Antonio da. Vestis zerschnitt, mir ein verlegenes Lächeln zuwerfend, mit einem Messer Antonios Fleisch, und ich bemerkte nun endlich, daß Antonio außer dem Holzlöffel über keinerlei Besteck verfügte. Augenscheinlich gab man ihm aus Sicherheitsgründen nichts Scharfes oder Spitzes in die Hände. Ich muß nicht betonen, daß ich darin angesichts der vollkommenen Harmlosigkeit, die von Antonio ausging, eine maßlose Übertreibung sah. Im übrigen schalt ich mich wegen des Ekels, den ich soeben empfunden hatte. Ich wollte diese im stillen begangene Ungerechtigkeit vor mir selber sogleich wiedergutmachen, indem ich Antonio ausnehmend freundlich fragte, ob er wisse, was da auf seinem Teller dampfe. Er glotzte mich an, als habe er die Frage nicht verstanden. Und vielleicht verhielt es sich ja wahrhaft so. Ich erinnerte mich des Erfolgs meiner ersten Plapperei und begann noch einmal, einfach draufloszureden: »Du, wir essen jetzt Fleisch. Das Fleisch kommt von den Tieren. Vielleicht erinnerst du dich an Tiere? Da sind Pferde, Büffel, Schweine, Hühner. Tja, und manche Hühner haben ein Gefieder mit Punkten drauf, die wie Perlen aussehen. Perlhühner. Das sind Perlhühner, und wir essen jetzt welche. Teile von denen, genauer gesagt. Gebraten sehen sie ganz anders aus als in der Natur. Weißt du was? Morgen bringe ich Papier und Kohle mit, und dann male ich dir ein Perlhuhn, wie es draußen herumrennt. Ich kann nicht besonders gut malen, aber was soll’s. … Antonio?« Es schien, als höre er mir gar nicht zu; er gab sich vollkommen der Beschäftigung mit den Fleischstücken hin. Der Einfachheit halber schob er diese mit seinen Fingern auf den Löffel. Er schaute nicht einmal auf, als ich ihn anrief. Ich blickte zu Vestis, der abermals verlegen lächelte. Dann beugte er sich zu mir und flüsterte den mir platt und überflüssig erscheinenden Satz: »Wenn er ißt, dann ißt er.« Erst auf der Über- beziehungsweise Unterfahrt zurück aufs Festland wurde mir klar, was der kluge, zurückhaltende Vestis damit hatte sagen wollen: Das Essen war doch sechs Jahre Antonios einzige Beschäftigung gewesen. Nichts, aber auch gar nichts sonst, was seinem Tag Struktur gegeben hätte. Das Essen hielt ihn auf noch ganz andere Art am Leben, als es bei uns allen der Fall ist. Wollte ich ihn nicht völlig verwirren, durfte ich ihn also keinesfalls dabei stören; geduldig und wortlos mußte ich ihn gewähren lassen.
    *
    Daß Peter Schotts Trainer beim Beschlagnahmen des Kofferradios ganz bestimmt nicht ohne Falsch gewesen war, diente Langhammer im »Interhotel« als Aufhänger, nun in mecklenburgisch kurzen Sätzen die folgende Geschichte zu erzählen.
    »Mit den Lügen«, hob er an, »ist’s immer so eine Sache. Manche kommen sofort raus, manche nie. Und manche kommen erst dann raus, wenn der Lügner schon zu denken beginnt, jetzt habe er nichts mehr zu befürchten. Gerade so ging’s einem Angler aus meinem Dorf. Vor ein paar Jahren fängt er einen kapitalen Hecht. Jedenfalls erzählt er überall rum, das sei ein kapitaler: 21 Kilo bei 130 Zentimetern Länge. Als Beweis zeigt er ein Foto. Auf dem ist zum Vergleich ein 70er Hecht zu sehen, den er, wie er sagt, gleichfalls hochgezogen habe. Er schickt das Foto auch der Anglerzeitung. Und die Zeitung druckt es und schreibt einen großen Bericht dazu. Da ist er bei uns natürlich der King. Auf dem Dorffest braucht er nur mit dem Finger zu schnipsen, und schon kommen die Weiber angelaufen. Mit der Schönsten zieht er ab, und es dauert auch gar nicht lange, und sie heiraten. Da ist er erst recht der King. Aber irgendwann schnallt das Mädel, daß er gar nicht so ein toller Kerl ist, wie sie gedacht hatte. Sie merkt es im Bett, beim Reden, und noch sonstwo. Er bringt ihr auch niemals wieder so einen Hecht heran. Und sie ist immer noch so schön. Und sie grämt sich, daß sie wohl einen ziemlichen Fehler gemacht hat. Und jetzt passiert’s. Die Redaktion der Anglerzeitung zieht um, und der Umzug wird dazu genutzt, mal richtig auszumisten, vor allem bei den Fotos, weil die ja den meisten Platz wegnehmen. Ein Volontär erledigt das. Er kriegt auch das Bild in die Hände, das unser Angler eingesendet hat. Dabei merkt er, es fühlt sich an bestimmten Stellen

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