Brüder und Schwestern
dahin.«
Und die Männer, sie klönten immer weiter, und hätte Rusch, assistiert von seiner Ziege, die plötzlich vor der Theke stand und einmal kurz und durchdringend meckerte, ein paar Minuten vor Mitternacht nicht die letzte Runde ausgerufen, und hätte er nicht gleich auch kassiert und das Licht des Kristallüsters gelöscht, so würden sie noch heute da sitzen und klönen.
*
Aus dem Romanmanuskript »Das verschlossene Kind«: 4. Kapitel:
Als ich auf meinem Rückweg von der Insel aus dem dicht bewachsenen Waldstück trat, in dem der Wassertunnel endete, entdeckte ich auf dem kopfsteingepflasterten Weg eine weiße Kutsche. In dem Moment, da ich an ihr vorbeigehen wollte, öffnete sich die Tür. »Herein, Karandasch«, sagte eine gebieterische, wenngleich nicht unfreundliche Stimme. Ich folgte und fand mich zu meiner nicht geringen Überraschung neben dem Obersten wieder. Aber ich lüge! Wenn ich ehrlich bin, muß ich zugeben, daß ich schon beim Anblick der Kutsche unwillkürlich an den Obersten hatte denken müssen. Nur schien es mir angemessen, ihm gegenüber so zu tun, als sei ich überrascht. »Sie haben noch mit den Herrschaften gespeist?« fragte der Oberste. Ich fühlte mich bemüßigt, ihm zu erklären, es sei mir nicht etwa darum gegangen, ein Essen abzustauben, sondern, der mir übertragenen Aufgabe gemäß, Bande zu Antonio zu knüpfen. Er nickte und sagte: »Daran hegte ich keinen Zweifel. Allerdings, Ihren auf der Insel der Ruhe geäußerten Wunsch, immer mit Herrn Antonio zu dinieren, muß ich Ihnen abschlagen. … Was haben Sie denn, Karandasch? Worüber staunen Sie?« Ich erklärte ihm, verwundert zu sein, wie schnell mein Wunsch den Weg zu ihm habe finden können. In Wahrheit war ich sogar bestürzt. Er lächelte maliziös und erklärte: »Alles findet den Weg zu mir, Karandasch, weil ich den Weg zu allem finde. Es gibt keine Entfernungen für mich.« Ich wollte ihn fragen, wie er das meine, war dann aber zu ängstlich und schwieg. Auch er schwieg. Ich nahm jetzt wahr, daß ein kalter Tabakgeruch in der Luft lag, und schloß kurz die Augen. Holpernd fuhr die Kutsche in Richtung Stadt. »Und was haben Sie selbst für einen Eindruck von Herrn Antonio?« brach der Oberste schließlich die Stille. Er tat so, als habe er seinen Eindruck schon geäußert, was natürlich nicht der Fall war. Und doch hatte er einen Eindruck von Antonio, das spürte ich, und mich beschlich in diesem Moment das Gefühl, es sei sogar ein ganz frischer. Meine Worte abwägend, antwortete ich: »Mein Eindruck ist zwiespältig. Antonio ist natürlich bei weitem nicht so entwickelt wie ein normaler Neunjähriger, und das ist unter den gegebenen Umständen auch gar nicht möglich. Doch bedenkt man, daß er völlig von der Außenwelt abgeschottet lebt und mit beinahe keiner Menschenseele zusammenkommt, so hat er sich durchaus wacker gehalten. Ich hatte jedenfalls ein noch verschreckteres und verstörteres Wesen erwartet; ich sage mit Bedacht Wesen, weil ich daran zweifelte, wahrhaft noch einen Menschen vorzufinden.« Weiter traute ich mich in meiner Rede nicht zu gehen. Ich hatte den Obersten ja zwischen den Worten schon der Unmenschlichkeit geziehen! Antonio hingegen hatte ich offen gelobt! Und all das hatte ich gesagt, ohne zu wissen, was der Oberste von mir für Aussagen erwartete. Besorgt harrte ich seiner Reaktion. Er blickte eine Weile aus dem Fenster, hinter dem sich weite Äcker mit sauber gezogenen Furchen zeigten, und sagte dann, in Richtung der Äcker: »Man kann nicht zwei Getreidesorten auf derselben Krume pflanzen, denn was geschähe? Sie gingen beide ein. Jeder Bauer weiß das.« Er wandte sich nun zu mir. »Sie aber, der Sie ein Gelehrter sind, haben den Drang, Herrn Antonio in allem aufzuhelfen. Wenn es nach Ihnen ginge, soll er fließend sprechen, anständig essen und überhaupt sich wie ein Kind seines Alters benehmen können. Tss, tss, tss, nicht doch, Karandasch, Sie überfordern ihn. Sie stürzen ihn in die Hölle, spüren Sie das nicht? Wie gut, daß wenigstens ich es spüre! Wer soll ihn auch vor derlei Überforderungen schützen und vor der Hölle bewahren, wenn nicht ich? Gewiß, an mir ist es, und deshalb muß ich Sie, bei allem Respekt, daran erinnern, zu welchem Zwecke ich Sie in Herrn Antonios Nähe gebeten hatte: damit Sie ihm etwas beibringen, das wir beide in unserem Hochmut vielleicht als rudimentär bezeichnen mögen – und das für ihn doch schon mehr als hilfreich ist. Das ihn nicht
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