Brüder und Schwestern
wiesen entweder ein M oder ein S auf, nicht wenige sogar beide Buchstaben. Mein Ärger war jetzt wie weggeblasen. Ein wissenschaftliches Prüfen hatte eingesetzt, ein Bohren, von dem ich wußte, es würde mich auf den Grund der Dinge führen. Ich richtete meine Aufmerksamkeit noch einmal auf das Gedruckte, und was ich dabei entdeckte beziehungsweise eben nicht entdeckte, verschlug mir den Atem: In der gesamten Fibel kam weder ein M noch ein S vor. Es war, als existierten diese Buchstaben nicht. Ich schlußfolgerte, jemand müsse auf gewöhnliche Weise, unter Verwendung auch des M und des S, alles geschrieben haben, und von diesem Jemand, oder von einem anderen, müssten im Anschluß die Tilgungen und die wiederum nötigen Einfügungen vorgenommen worden sein. Was für eine Mühe! Was für ein Aufwand! Und warum? Warum denn nur? Wenn Antonio zwei Buchstaben nicht lernte, würde er, da er sie ja sprach, früher oder später doch nach ihnen fragen, und ich oder wer auch immer würde sie ihm gewissermaßen nachreichen. Außer einer kurzzeitigen Verwirrung Antonios hätte der Oberste also nichts erreicht; und was bedeutete schon dieses kleine Durcheinander im Kopf des Jungen angesichts der großen Konfusion, in der er seit Jahren lebte. Völlig unmaßgeblich wäre es. Und der Oberste, er mußte das wissen, er war nicht dumm. Also mußte er eine andere Absicht hegen. Warum ausgerechnet das M und das S, überlegte ich, wieso hatte er nicht etwa das B oder das K oder das T verschwinden lassen? Ich versuchte, das M und das S gezielt in Bezug zu ihm zu setzen, und fragte mich, ob ihm diese beiden Buchstaben aus irgendeinem Grunde vielleicht unangenehm oder sogar zuwider sein könnten. »M und S, M und S«, murmelte ich mehrmals, und wie von selbst rutschte mir plötzlich heraus, »Meta und Salo, Meta und Salo – Meta und Salo!« Fürwahr, die waren ihm zuwider, die hatten ihn bekämpft, und nun versuchte er, der sie getötet hatte, sie noch einmal auszulöschen, auf diese ridiküle Art! Gewiß, alles war so lächerlich, daß ich es nicht fassen konnte. Der Oberste, den man gerade wegen seiner Verschlagenheit so fürchtete, war lächerlich und kindisch. Kindischer als Antonio, als der zurückgebliebene Antonio war er doch. Ich lachte los, lachte ihn schallend aus. Aber schon nach zwei oder drei Sekunden verstummte ich voller Entsetzen. Wenn er bereit war, sich derart lächerlich zu machen, was für unbeschreibliche Wut mußte er dann in sich spüren, was für unstillbaren Rachedurst. Welche Dämonen mußten in ihm tanzen. Oh, er war noch viel gefährlicher, als ich je vermutet hatte, denn erkannte er erst einmal, oder stieß ihn jemand mit der Nase darauf, daß er sich wie ein Narr verhielt, geriete er vielleicht von einer Sekunde zur anderen in Raserei; und in diesem Zustand wäre er ohne Zweifel imstande, Antonio eigenhändig zu töten. Ich durfte ihn demnach unter keinen Umständen spüren lassen, daß ich ihn durchschaute und sogar über ihn gelacht hatte. Auch mußte ich sämtliche Verbesserungen wieder aus der Fibel entfernen, sofort! Gewissenhaft radierte ich sie aus. Es war schon weit nach Mitternacht, als diese Arbeit endlich beeendet war.
*
Am Morgen nach dem Klönen und Trinken sollte Matti in Rüdersdorf Zement laden. Er steuerte das leere Schiff auf der Spree-Oder-Wasserstraße, die von sattgrünen Bäumen und Sträuchern gesäumt war; aber schon auf den Rüdersdorfer Seen, weit vor dem Zementwerk, begann die gesamte Landschaft zu verblassen. Mit jedem Meter, den der Kahn zurücklegte, verlor sie an Farbe und schien zu altern. Bald war sie bleich und grau, und kahl war sie, ganze Baumgruppen bestanden nur noch aus knochenfarbigen Skeletten; und knochenfarbig die Dächer, auch die wenigen neu gedeckten, selbst die Sonne sah aus wie verkalkt, bleich wie der Mond in einer schleierhaften Nacht, Matti konnte direkt in sie hineinschauen, als wäre sie eine Attrappe; und farblos die Autos, inklusive der ursprünglich postgelben und grashüpfergrünen Trabis, die am Ufer etwas aschig Weißes aufwirbelten, so stob er hoch, der alles erstickende Staub jener Jahre, die Fahne, die an keinem Mast wehte.
Wie immer, wenn Matti hier entlangschipperte, mußte er Tür und Fenster des Steuerhauses schließen. Er war aber nicht verärgert darüber. Vielmehr fühlte er in dem nun verriegelten Kasten eine sonderbare Entrücktheit – als wäre er ein Besucher auf einem fremden Planeten. Wann war ihm das letzte Mal so gewesen? Er sah
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