Brüder und Schwestern

verantwortlich waren. Wie viele schwache und dumpfe Menschen doch seinen Weg kreuzten! Wie sie sich alle gehenließen! Wie sie im Stumpfsinn badeten! Nun aber begann er an ihrer Schuld zu zweifeln. Auch sie werden ihre Erlebnisse gehabt haben, dachte er, auch sie wird das einfach so überkommen. Beinahe schloß er sie ins Herz, diese mürrisch In-sich-Gekehrten. Ging er wieder an solch einem vorbei, sagte er sich mit schmerzender Zufriedenheit, na bitte, ein Kompagnon, noch so einer. Zugleich aber verbat er sich jede Gemeinsamkeit mit diesem, denn er wollte nicht so aussehen und wirken, nicht so finster, und trotzig sagte er sich: Ich bin doch nicht so. Ich bin überhaupt nicht so. Vielleicht ist der da wirklich so – aber ich, ich bin es doch nicht.
    Etwa fünf Minuten nachdem die »Barby« das Kraftwerk passiert hatte, wurde er aus seinen Gedanken gerissen, denn vor ihm lag schon die Halbinsel Stralau. Dort befand sich der Sitz der Stromreederei, und dort mußte er das Schiff an zwei »Springer« übergeben, die es durch Westberlin führen würden: Nähme es nicht diesen kurzen Weg nach Brandenburg, wo der Zement hin sollte, müßte es ja zurück in Richtung Osten auf die Oder und von dort auf den Oder-Havel-Kanal, ein Umweg, der viel zuviel Zeit kostete, mindestens einen Tag.
    Matti und seine Leute gehörten nicht zu den Auserwählten, die Westberlin durchqueren durften. Sie mußten ihr Schiff immer hier in Stralau verlassen, und oben in Hennigsdorf, am nordöstlichen Stadtrand, durften sie es dann wieder übernehmen. Aber von wem würden sie heute ersetzt werden? Am Ufer, dem die »Barby« sich jetzt näherte, standen zwei Gestalten, nur vermochte Matti in der gleißenden Sonne nicht gleich zu erkennen, wer das war. Er streckte, seine Linke am Steuerrad belassend, seinen rechten Arm nach vorn, streckte ihn ganz aus, klappte auch die Handfläche hoch und verdeckte mit ihr die Sonne. Nun sah er, der eine war Schlotzke, der andere Lingsohr. Beim Anblick Schlotzkes mußte Matti lächeln, denn er dachte an die Geschichte mit dem Ring; aber Lingsohr, den hätte er sich nun als allerletzten hergewünscht. Es war ein offenes Geheimnis, daß der extra in die Partei eingetreten war, um Aufnahme bei den »Springern« zu finden und in den Westen zu dürfen. Da war er zwar bei weitem nicht der einzige, der sich aus diesem Grund der gesellschaftlichen Avantgarde verpflichtet hatte, doch maulte er, und nur er, dann auch noch überall herum, wie mies es ihm in Westberlin ginge, immer müsse er in der kurzen ihm zur Verfügung stehenden Zeit herumhetzen, um Besorgungen zu machen, die ihm von der Verwandtschaft aufgetragen worden seien, und überhaupt könne er sich Besseres vorstellen, als Tag für Tag auf fremden Schiffen herumzuturnen. Matti sah der Begegnung mit ihm buchstäblich mit gerunzelter Stirn entgegen.
    Statt sich zu einer Begrüßung herabzulassen, stänkerte Lingsohr, die »Barby«, das sei ja nun wahrlich nicht sein Lieblingsschiff, ob man es nicht wenigstens anders nennen könne.
    Wie er »uff die unsinnije Idee« käme, fragte Peter Schott.
    Da erklärte Lingsohr, er habe die Nase langsam voll davon, in Westberlin, und dort vorrangig in der Spandauer Schleuse, von Gaffern zu hören zu bekommen, »haha, ’ne Barbie unter ’ner Ostfahne, und natürlich falsch jeschrieben, ditt Püppchen«, jawohl, er sei am Ende der Geduld, er habe die Lust verloren, jedem Westdeppen zu erläutern, daß Barby eine bei Magdeburg und an der Elbe gelegene Stadt sei, aber ehrlich, er würde auch viel lieber wie Matti und seine Leute jetzt mit der S-Bahn entspannt um Westberlin herumfahren, als sich dauernd mit solchen Sprüchen abzuplagen.
    Peter Schott erwiderte, da könne er nur zwei Worte sagen: »Machdo!«
    Aus Matti aber brach es einen Moment später heraus: »Ich kann’s nicht mehr hören, ich ertrag’s nicht länger, mir diesen Stuß anzuhören, den du hier ständig absonderst …«
    »Was heißt hier Stuß«, wandte Lingsohr ein, aber Matti war ganz außer sich: »Halt den Mund, du bist ja dermaßen verlogen, Lingsohr! Widerlich bist du! Du erzählst deinen verlogenen Mist, wo du willst, aber nicht auf diesem Schiff, nicht mehr auf diesem Schiff, verstanden?«
    »Pff, dieses Schiff …«
    Matti trat mit wütendem und drohendem Gesichtsausdruck auf Lingsohr zu. Er winkelte auch so seltsam seine Arme an. Aber in dieser Sekunde zeigte sich ausgerechnet Peter Schott äußerst besonnen. Er zog Matti, den er gar nicht