Brüder und Schwestern
wiedererkannte, wo kam denn plötzlich dessen Heftigkeit her? schnell mit einem Arm zurück, und da er kräftiger war als Matti, führte er ihn mit sanftem, für die Außenstehenden kaum erkennbarem Druck auch gleich von Bord.
Als sie dann in der S-Bahn saßen und hoch nach Hennigsdorf fuhren, immer an der Wand lang, immer an der Wand lang, fragte er Matti, was denn eben mit ihm gewesen sei, aber der schüttelte nur den Kopf und schaute unverwandt nach draußen.
*
Aus dem Romanmanuskript »Das verschlossene Kind«: 5. Kapitel:
Kaum hatte ich am nächsten Tag die Insel betreten, fing Vestis mich mit besorgtem Gesicht ab. Er bat mich, mit ihm einen Spaziergang innerhalb des Kerkerdreiecks zu unternehmen, und ich, der ich ihn am Tag zuvor unter ähnlichem Vorwand in ein Gespräch verwickelt hatte, begriff, daß nun unbedingt er mit mir zu sprechen wünsche. »Herr Magister«, begann er auch sogleich, »da ist etwas, das Sie wissen sollten: Antonio redet, und er redet verständlicher, als Sie es sich wahrscheinlich vorzustellen vermögen. Allerdings weiß er wohl selber nicht, daß er es tut. Weil es nämlich nur in der Nacht geschieht. Weil er phantasiert. Nicht jede Nacht zwar. Manchmal ist er wochenlang still. Aber genausogut kann es geschehen, daß er in zwei oder drei aufeinanderfolgenden Nächten phantasiert. Uns bleibt in einer solchen Nacht nichts übrig, als ihn zu wecken und ihm zu sagen, er solle ruhig sein, denn wir finden sonst gar keinen Schlaf, und er raubt uns noch den letzten Nerv. Gomus ist sogar des öfteren schon sehr laut geworden. Der junge Herr schaut uns dann jedesmal, Verzeihung, wenn ich das so sage, aber mir fällt kein anderes Wort ein, wie ein Esel an. Er weiß tatsächlich von nichts.«
Ich fragte Vestis, warum er mir das heute erzähle, und er antwortete: »Zum einen, weil heute wieder so eine Nacht war, und zum anderen, weil ich gestern noch Angst hatte, Sie könnten uns verraten.«
»Und heute hast du diese Angst nicht mehr?«
»Nicht mehr. Ich habe Vertrauen zu Ihnen. Sie sind ein guter Mensch, Herr Karandasch.«
Ich wußte schon damals um meine Schwächen, als da Unschlüssigkeit, Feigheit und, wenigstens zeitweise, Antriebslosigkeit sind, und fragte Vestis unwirsch, wie er eigentlich dazu komme, sich so über mich zu äußern, er kenne mich doch heute genausowenig, wie er mich gestern gekannt habe. Sanft erwiderte er: »Ich kenne Sie, seit ich sah, wie Sie mit Antonio redeten. Nach diesem Gespräch war mir klar, Sie können niemanden verletzen, niemanden, und ein Mensch, der niemanden verletzen kann, der ist gut, was er sonst auch für Eigenheiten haben mag.«
Diese Einschätzung, gegen die ich nichts einzuwenden wußte, war mir peinlich, vielleicht auch deshalb, weil mich, den still vor sich hin Lebenden, damals schon lange niemand mehr gelobt hatte. Manche Leser mögen vielleicht denken, man sauge in einem solchen Fall das Lob erst recht auf, aber das ist, jedenfalls was meine Person betrifft, ein Irrtum. Ich stieß das Lob ab, so wie ja ein Kranker, der wochenlang nichts außer bitterer Medizin eingeträufelt bekam, die erste, heiß ersehnte Mahlzeit nicht verträgt und wieder ausspuckt. Kurzum, ich brachte, um von mir abzulenken, das Gespräch schnell wieder auf Antonio, und fragte Vestis, wovon er nachts phantasiere. Vestis antwortete: »Von Katzen und Mäusen, immer nur von denen. Es macht einen verrückt. Viele Katzen sind das, die ihm wohl im Kopf herumschwirren, Herr Karandasch. Sie scheinen ihn zu bedrängen. Nicht kratzen, ruft er immer wieder, nicht kratzen, geht weg, geht weg. Aber das Kratzen scheint bei weitem noch nicht das Schlimmste für ihn zu sein. Irgendwas hat er mit den Augen der Katzen. Die schießen, wenn ich alles richtig deute, grüne Pfeile auf ihn ab, immer zwei auf einmal, und denen weicht er aus, er wirft sich regelrecht auf seiner Pritsche herum und fuchtelt, wie um sich zu schützen, mit den Armen und schreit, was machen die Bogenschützen, nehmt die Bogenschützen weg.« Vestis schaute so geplagt, als werde er selbst von diesen Träumen heimgesucht. Ich fragte ihn, ob er sich erklären könne, warum Antonio immer wieder in diese eine Phantasterei verfalle, aber er verneinte. »Nur eine unbestimmte Ahnung habe ich. Vielleicht ist einmal in all den Jahren, in denen ich noch nicht hier tätig war, eine der vielen Katzen, die auf der Insel herumlaufen … da, sehen Sie, da ist eine … und noch eine, da … in seine Zelle geschlüpft, und
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